1129 - Das Blutmesser
erinnere ich mich. Da ist etwas gewesen.«
»Das Blutmesser?«
»Weiß nicht.«
»Du hast selbst davon gesprochen.«
»Kann sein, John«
»Hast du etwas gesehen?«
Michelle überlegte. Sie zog dabei wie fröstelnd ihre Schultern an. »Nicht direkt, John, nur gefühlt. Ich kam mir vor wie in einem Käfig. Wie eine Gefangene. Mehr fällt mir im Moment nicht ein.«
»Hast du die Gestalten in den Kutten gesehen?« bohrte ich weiter.
Michelle schüttelte den Kopf. »Nein, die habe ich nur gehört. Es waren ihre Stimmen. Sie haben zu mir gesprochen. Sie wollten, daß ich allein bleibe. Sie wollten mich auch holen. Ich weiß nicht, wann das passieren wird, aber irgendwann werden sie kommen.« Bisher hatte sie sich gut in der Gewalt gehabt. Das war plötzlich vorbei. Die Tünche zerbrach, und Michelle begann zu weinen. Es war für mich kein normales Weinen, sondern mehr ein trockenes Schluchzen. Der Körper und der Kopf zuckten dabei. Wahrscheinlich kehrte allmählich die Erinnerung zurück.
Das Kleid besaß an den Seiten Taschen. Sie holte ein Tuch hervor, wischte die Augen trocken und schneuzte ihre Nase. Danach atmete sie ein paar Mal durch und schaute mich an.
»Geht es besser?« fragte ich.
»Ein wenig.« Sie sah den Kaffee und trank einige kleine Schlucke. Als sie die Tasse wieder weg stellte, hatte sich ihr Blick verändert. Sie schaute mich an, aber sie sah zugleich hindurch. Die Gedanken bewegten sich in völlig andere Richtungen. »Ich habe mich allmählich erinnert, John.«
»An was, bitte?«
»An das Messer.«
Ich schwieg.
Das paßte ihr auch nicht. »Warum sagst du nichts? Bist du nicht froh, daß es so geschehen ist?«
»Ja, schon, aber das ist mir zu wenig, Michelle. Ich habe es ja selbst gesehen. Du hast es plötzlich in der Hand gehalten und es dir dann an die Kehle gedrückt. Du hast dir zudem die Verletzung selbst zugefügt. Die schmale Wunde stammt von dir. Ich würde gerne wissen, woher die Waffe so plötzlich gekommen ist.«
Auf diese Frage erhielt ich keine direkte Antwort. Sie sagte aber etwas anderes, das mich überraschte. »Ich kenne das Messer. Es ist mir nicht neu.«
»Sehr gut.«
»Ach wirklich? Das hast du nur gesagt, weil du die Wahrheit nicht kennst. Ja, es ist das Blutmesser gewesen, und ich weiß auch, daß es einmal meinem Bruder Alain gehört hat. Es ist sein Rasiermesser gewesen, aber plötzlich war es hier.«
»Du hast einen Bruder?« fragte ich.
»Ja. Oder nein. Ich hatte einen Bruder. Aber Alain ist tot. Schon seit einigen Jahren. Er und ich, wir… nun ja, wir waren uns ziemlich gleich, was die künstlerische Begabung angeht. Er war ebenfalls ein guter Maler, wir haben immer zusammen geübt, aber dann ist er…«, sie zuckte mit den Schultern. »Es gibt ihn nicht mehr.«
»Dann ist er tot?«
»Ja!« flüsterte Michelle und senkte den Blick. »Alain ist tot. Bevor du mich weiter nach ihm fragst, gebe ich dir schon eine Antwort. Er ist auch nicht normal gestorben, sondern auf eine schreckliche Art und Weise umgekommen.«
»Wurde er ermordet?«
»Nein, er brachte sich selbst um. Er kam nicht mit dem Leben zurecht. Es war nichts für ihn.« Sie blickte an mir vorbei und auf das Fenster. »Er war nicht für diese Welt geschaffen. Alain war zu sensibel. Ich weiß das genau. Er hat immer an mir Halt gesucht, den ich ihm leider nicht geben konnte.«
Ich hatte so eine Idee und fragte: »Wie oder womit brachte sich dein Bruder um?«
Michelle atmete tief ein. »Es liegt fast auf der Hand. Er tötete sich mit einem Messer. Soll ich dir noch sagen, welches Messer es war?«
»Nein, Michelle, das brauchst du nicht. Ich kann es mir denken.«
Sie nickte vor sich hin, tupfte wieder die Augen trocken und sprach leise weiter. »Es sieht so aus wie ein Rasiermesser, aber das ist nicht der Fall. Es ist sein Messer gewesen, mit dem er geschnitzt hat. Alain malte nicht nur, er war auch Schnitzer und Bildhauer. Ein begnadeter Künstler, viel besser als ich. Ich kann nur malen, aber er konnte noch andere Dinge. Nur kam er eben nicht mit dem Leben zurecht. Er ist daran einfach verzweifelt.«
Mit Fällen, bei denen Selbstmorde eine Rolle spielten, hatte ich nicht zum erstenmal zu tun. Ich kannte die verschiedensten Gründe, weshalb ein Mensch sein Leben so einfach wegwarf, und auch hier wollte ich das Motiv der Tat erfahren. »Du hast gesagt, daß er mit dem Leben nicht mehr zurechtkam. Das kann man hinnehmen oder auch nicht. Ich würde gern von dir die Gründe erfahren, warum es
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