1129 - Das Blutmesser
denn sie hatte ihren so lang vermißten Bruder wieder.
»Alain…«
Sie stolperte ihm entgegen. Sie sah ihn von ganz nah, wie er den Kopf leicht schräg hielt, und sie entdeckte wieder die klaffende Wunde in seiner Kehle.
Das war jetzt egal. Er hätte noch mehrere und auch größere Wunden haben können, es störte sie alles nicht. Vor ihr lag die Herrlichkeit zum Greifen nahe.
Sie ließ sich in seine Arme fallen - und landete auf dem feuchten Boden.
Für einen Moment war sie unsicher. Der normal empfundene Schmerz vertrieb die Euphorie. Es war, als wollte sie das normale Leben noch einmal an die Realität erinnern, begleitet von einem Schmerz im rechten Knie, denn sie war damit auf ein sperriges Stück Ast gefallen.
Michelle stand nicht auf. Sie blieb knien. Ihre Hände hatte sie gegen den Boden gestemmt. Für kurze Zeit dachte sie wieder an die Normalität und fragte sich sogar, was sie hier tat.
Alle Gedanken in diese Richtung wurden von den nächsten Worten ausgelöscht. »Endlich, Michelle, sind wir wieder zusammen. Endlich, meine Liebe…«
Sie lächelte. Auch wenn er es nicht sah, weil sie den Kopf nach vorn gedrückt hatte. Aber sie mußte es einfach tun, denn dieses Lächeln tat ihr einfach gut. Es war eine Reaktion auf seine letzten Worte, die ihr so gutgetan hatten.
»Bleib, wo du bist, Schwester.«
»Ja, gern. Ich gehe auch nicht mehr weg, Alain. Ich habe dich so schrecklich vermißt. Aber jetzt bin ich wieder bei dir, und wir sind endlich zusammen.«
»So muß es auch sein. Im Leben ebenso wie im Tod«, erklärte er flüsternd.
Ihre Hände rutschten vom Boden weg. Dabei richtete sich Michelle auf, erhob sich jedoch nicht und blieb mit durchgedrücktem Rücken auf dem Boden knien, den Blick diesmal erhoben, denn ihr Bruder bewegte sich zum Greifen nahe vor ihr und sank dann zusammen.
Er hob sich jetzt deutlicher vom Nebel ab. Seine Gestalt wirkte wie eine kompakte Masse, die jemand in die treibenden Nebelschwaden hineingedrückt hatte.
Jetzt, wo sie ihn aus allernächster Nähe da, stellte sich Michelle die Frage, wer er wirklich war. Geist? Mensch? Ein Mittelding von beiden, mal Mensch, mal Geist?
Das Gesicht und auch der Körper gehörten einem Menschen, aber wenn sie die Hand ausstreckte, um ihn anzufassen, berührte sie zwar diese trockene und auch kalte Masse, aber es war kein Widerstand wie bei einem normalen Menschen vorhanden. Die Finger durchstießen die Masse, die sich dann dabei wie ein Ring um die Haut legten.
Sein Gesicht befand sich ungefähr in der Höhe des ihren, so daß sich beide anblickten. Michelles Augen lebten, seine waren auch vorhanden, aber sie konnte sie nicht als Augen ansehen. Es waren andere Dinge.
Kalte, ovale, und auch ungefähr so grau und schimmernd wie die Hüte der Begleiter.
Er kniete sich neben sie. Die Wunde an seinem Hals sah sie nicht. Dafür hatte sie einfach keinen Blick. Michelle konzentrierte sich ganz auf das Gesicht, und sie wartete wieder auf die Ströme, die sie vor seinem Tod erlebt hatte, wenn sie zusammengewesen waren. Das Band zwischen ihnen war nicht zu sehen und nur zu spüren gewesen. Mit seinem Ableben war es schlagartig abgerissen. Nun hoffte Michelle, daß es sich wieder aufbaute, wenn auch nicht in der gleichen Stärke wie es früher gewesen war.
Alain besaß Arme, Beine und Hände wie jeder andere Mensch. Und trotzdem war er das nicht. Er war mehr als Wesen wie aus einer Plastikmasse geformt, ein Modell aus Watte oder Teig und trotzdem nicht so zu fassen oder zu berühren, wie es bei diesem Aussehen hätte sein müssen.
Er lächelte wie immer, trotzdem lächelte ein Fremder für sie. Das Band wird wohl doch nicht mehr so stark werden zwischen uns, dachte Michelle.
Alain merkte, daß etwas mit ihr nicht stimmte. »Was hast du?« erkundigte er sich.
»Nichts.« Sie schüttelte den Kopf.
»Doch, ich spüre es. Ich merke, daß du mich nicht mehr so siehst wie früher.«
»Kann ich das denn?«
»Warum nicht?«
»Du bist doch tot. Dein Körper wurde verbrannt. Deine Asche steht in meinem Haus. Aber jetzt sehe ich dich und frage mich, ob das alles gar nicht wahrgewesen ist, was mit dir geschah. Dein Sterben, das Verbrennen, das nicht mehr auf der normalen Welt sein, ich habe mich nicht damit abgefunden, doch ich habe es akzeptiert. Aber dann wurde alles anders. Plötzlich warst du wieder da. Jetzt sitzt du vor mir. Ich kann dich anfassen oder auch nicht. Aber du bist nicht mehr der gleiche Alain, den ich kenne. Mit dem ich
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