1129 - Das Blutmesser
ich es gestohlen hatte.«
Michelle konnte nicht mehr sprechen. Sie verfolgte nur die Bewegungen ihres Bruders, dessen rechter Arm einen kleinen Bogen schlug und dabei hinter sich griff. Für eine kurze Zeitspanne sah sie die Hand nicht mehr. Als sie dann wieder vor ihr auftauchte, ragte aus der Faust die Klinge hervor.
In diesem Moment hatte Michelle das Gefühl, daß sich der Nebel in Eis verwandelt hatte, so kalt war ihr geworden. Zudem fühlte sie sich eingeschlossen, und sie war auch nicht in der Lage, sich zu bewegen. Sie sah nur das Messer, das seinen Weg beschrieb und auch in die Nähe ihrer Lippen geriet. Sie sah das Blut auf der Klinge und schaute zu, wie sie sich senkte.
»Nimm es, Schwester!«
»Nein!«
Jetzt veränderte sich der Blick der kalten Totenaugen. Er wurde bohrend. »Du mußt es nehmen!« Der letzte Satz klang wie ein Befehl.
Ihr Widerstand schmolz dahin. Sie merkte die Kälte jetzt überdeutlich.
Sie hatte sie steif gemacht, und es kam ihr nicht in den Sinn, sich zu wehren. Es hingen Bleigewichte an ihren Gliedern, und sie merkte, wie der Einfluß ihres Bruders immer größer wurde. Ihr Wille wurde dabei beeinträchtigt.
Sie wollte es eigentlich nicht, aber sie hob ihren rechten Arm an, und ihre Hand legte sich um das rechte Gelenk ihres »toten« Bruders. Wieder faßte sie selbst ins Leere. Es war für sie greifbar nicht vorhanden, im Gegensatz zum Messer. Das hielt sie plötzlich in ihrer rechten Hand, und die Kälte auf ihrer Haut zog sich langsam zurück.
»Hast du es nicht schon einmal versucht, Schwester? Schau dir deinen Hals an. Ist das wirklich so schlimm gewesen? Ein Stück hast du die Tür in das neue Leben bereits geöffnet. Jetzt liegt es an dir, sie ganz aufzustoßen.«
Sie sah das Blut an der ansonsten blanken Klinge. Es war ihr Blut, das wußte Michelle. Sie erinnerte sich deutlich daran, wie sie den kalten Stahl an ihrem Hals gespürt hatte, aber das war etwas anderes gewesen. Da hatte sie sich noch in einer anderen Situation befunden, denn da war der eigene Wille ausgeschaltet worden. Mittlerweile hatte sie ihre Erfahrungen gemacht und auch einen Mann namens John Sinclair kennengelernt, der die Dinge aus einem völlig anderen Blickwinkel sah. Und der war ihr mehr entgegengekommen.
»Na, Schwester, wie fühlt es sich an?«
»Schlimm«, flüsterte sie.
»Du kennst es. Wir haben es als Kinder schon gehabt. Daran solltest du dich erinnern.«
»Ich… ich kann es nicht!«
»Doch, Schwester, du kannst es. Du kannst es bestimmt. Ich will auch, daß du es kannst!« Seine Stimme hatte einen anderen Klang angenommen. Sie war dunkler geworden und dabei mit einer hörbaren Drohung unterlegt. »Du mußt es können, weil ich es so will. Früher hast du mich beschützt und Kontrolle über mich gehabt. Heute sehe ich es anders. Jetzt bin ich es, der das Sagen hat.«
Michelles rechte Hand zitterte. Das Messer machte die Bewegung mit.
Es war schon sehr alt. Man konnte die Klinge in den Griff hineindrücken und mußte sie wieder herausholen. Ihre Mutter hatte es oft zum Schälen von Obst und Kartoffeln benutzt, bis es plötzlich verschwunden gewesen war. Da hatte es sich im Besitz ihres Bruders befunden.
»Ich warte, Schwester.«
»Nein - bitte.« Sie flehte ihn an. Sie fühlte wie ein normaler Mensch. Sie stand nicht mehr unter Druck und unter dem Eindruck, verfolgt zu werden wie noch in den letzten Tagen. Deshalb konnte sie das einfach nicht übers Herz bringen.
»Ich werde dich zwingen, Schwester! Ich will dich! Ich will, daß wir wieder so zusammenkommen, wie ich es mir vorgestellt habe. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Da war es wieder. Urplötzlich spürte sie den Angriff. Wie die Attacken in den letzten Tagen. Das Fremde war über sie gekommen wie ein Rausch.
Jetzt war sie nicht mehr Herr ihrer Sinne. Es kam ihr wie ein böser Traum vor, als sie die rechte Hand hob und dabei auf ihre Kehle zielte.
Das Messer geriet in ihr Blickfeld, und hinter der Klinge malte sich verschwömmen das Gesicht ihres Bruders ab. Für sie war es zu einer zerfließenden Totenmaske geworden.
Das Messer erreichte ihre Haut.
Michelle erschauerte wegen der Kälte des Metalls. Wie ein scharfer Strich aus Eis.
Alain war zufrieden. »Gut«, sagte er leise und drohend. »Das ist sogar sehr gut. Jetzt brauchst du nur noch leicht zu drücken und das Messer von einer Seite zur anderen zu ziehen. Du wirst sehen, es tut nicht einmal weh. Es geht alles ganz schnell…«
***
Mir war klar, daß
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