1129 - Das Blutmesser
aufgewachsen bin, den ich sogar früher beschützt habe, weil du ja drei Jahre jünger bist als ich. Nein, du bist nicht mehr mein Alain. Du bist jetzt ein anderer, und ich muß meine Liebe zu dir überdenken.«
Alain hatte zugehört und lächelte. Zumindest versuchte er das gleiche Lächeln zu produzieren, das sie von seinen Lebzeiten her kannte. Es mißlang ihm. Er konnte nicht mehr mit dieser Fröhlichkeit und der Offenheit lächeln wie sonst. Da war eine Sperre, und so wirkte das Lächeln eher wie eine Grimasse.
»Du irrst dich, große Schwester. Ich bin noch immer da. Noch der gleiche, nur anders.«
»Nein, das verstehe ich nicht.«
»Ich bin hinüber in die andere Welt gegangen. Ich wollte es so. Sie hat mich gelockt. Der Ruf wurde immer stärker. Deshalb habe ich mich umgebracht, würdest du sagen. Ich sehe es anders. Mit dem Schnitt durch meine Kehle habe ich die Tür endlich aufgestoßen und existiere nun anders. Aber ich habe sehr schnell gemerkt, daß ich einsam bin. Es fehlt mir jemand. Du fehlst mir, um genau zu sein, und das möchte ich sehr gern ändern.«
»Denkst du dabei nicht zu sehr nur an dich?«
»Warum?«
»Kannst du dir nicht vorstellen, daß es mir in meiner Welt trotzdem gefällt?«
»Ja, das kann ich. Aber was ist stärker? Das Band zwischen uns Geschwistern oder die Welt, in der du dein Leben führst? Ich setze mehr auf das Band, Schwester.«
Beinahe wäre Michelle zurückgeschreckt, als sich seine Hand ihrem Gesicht näherte. Sie kannte die Geste von früher her. Immer dann, wenn es ihr mal schlecht gegangen war, hatte er für sie gesorgt und sie dann auch gestreichelt.
Diesmal tat er es wieder.
Nur war es anders.
Die Berührung gefiel ihr nicht. Sie war so trocken-kalt wie die Haut eines Toten, und Alain merkte schon, daß seine Schwester sich anders verhielt.
»Was ist los mit dir?«
»Ich kann nicht mehr, Alain.«
»Nein, Unsinn. Das darfst du nicht sagen. Natürlich kannst du noch. Du mußt es können. Was jetzt geschieht, das haben wir uns schon als Kinder geschworen. Erinnerst du dich nicht mehr daran?«
Michelle schloß für einen Moment die Augen. Ja, sie erinnerte sich sehr deutlich. Es war in einem kleinen Gartenhaus gewesen, in dem sie sich die Hand gereicht und das Versprechen gegeben hatten. Sogar mit ihrem eigenen Blut hatten sie den Pakt besiegelt. Wenn sie sich nicht allzusehr täuschte, hatten sie sich die Wunden sogar mit dem Blutmesser selbst beigebracht.
»Du erinnerst dich, Michelle, ich sehe es dir an.«
»Ja«, gab sie zu und senkte den Blick.
»Dann weißt du auch, daß Versprechen eingehalten werden müssen.«
Es war nicht fair von ihm, das wieder aufleben zu lassen, und Michelle suchte nach einem Ausweg. Sie glaubte auch, ihn gefunden zu haben, als sie sagte: »Damals hast du gelebt, Alain. Heute ist das nicht mehr so. Du bist tot.«
Alain blieb bei ihr. Er schaute sie an. Michelle sah seine Augen aus der Nähe, aber sie hatte den Eindruck, daß er weit, sehr weit von ihr entfernt war. Es gab da eine Trennung, eine Grenze, ein Graben, den sie nicht überschreiten konnte. Er war ihr nah und doch so fern. Anders konnte sie es nicht sehen. »Ich lebe auch heute noch«, erklärte er ihr. »Und zwar besser und nicht mehr so eingeschränkt. Du hast es doch erlebt, Schwester. Ich komme überall hin, wo ich auch hin will. Für mich gibt es keine Grenzen. Ich bin das Leben und zugleich auch der Tod. Von einer Seite zur anderen ist es nur ein kleiner Schritt, den ich beherrsche. Es ist etwas Wunderbares. Du solltest ebenfalls zu mir kommen. Es ist ganz einfach. Erst dann sind wir wieder richtig vereint.«
Noch immer saßen beide auf dem Boden. Die Wiese war naß. Der Nebel hielt sie umschlossen. Schon in der Nacht sollte er verschwinden, um einem strahlenden Tag Platz zu schaffen. So war das Leben. Mal hell, mal dunkel.
Die Augen waren auf Michelle gerichtet. Auch jetzt noch hatte sie den Eindruck, keine normalen Augen zu sehen. Diese hier waren einfach anders. Ohne Glanz - Totenaugen. Ebenso wie der Körper. Ohne Wärme.
Stofflich und feinstofflich zugleich und für Michelle einfach nicht zu begreifen.
Sehr langsam aber deutlich schüttelte sie den Kopf.
»Du willst nicht, Michelle?«
»Nein!«
Ihr Bruder begann zu lachen. Es war so schrill und hoch. Wie eine fremde Musik. Aber das Lachen verstummte, damit er die Antwort geben konnte. »Das habe ich nicht von dir erwartet. Du hast einen Schwur geleistet. Ich habe ihn geleistet, und ich bin auch
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