1129 - Das Blutmesser
bereit, ihn zu halten. Ja, ich werde es tun…«
»Warum hast du dich dann umgebracht, Alain? Warum bist du nicht als Mensch geblieben? Du hättest dich mir anvertrauen können. Ich hätte deine Probleme verstanden. Wir hätten darüber reden könne, dann wäre es nicht zu alldem gekommen.«
Er wartete einen Moment mit seiner Antwort. »Ich haßte die Welt!« flüsterte er dann. »Ja, ich habe sie gehaßt. Mich und sie. Ich fand mich nicht mehr zurecht. Aber ich wußte auch, daß ich zu Besserem geboren war. Die Welt war mir zu klein, und deshalb habe ich sie verlassen. Ich habe meinen Tod gut vorbereitet, das kannst du mir glauben. Ich habe meine Begleiter gefunden, die mich beschützen. Es sind See-. len, es sind Geister. Sie existieren, aber sie existieren nicht so, wie du es dir vielleicht vorgestellt hast. Weder im Himmel noch in der Hölle. Sie sind einfach da. Sie leben in einer Ebene dazwischen, in ihrem eigenen Reich. Es können Engel sein, aber auch Teufel. Jedenfalls sind es starke Seelen, auf die ich mich verlassen kann.«
»Ich aber nicht.«
»Wir gehören zusammen, Michelle.«
»Das ist vorbei«, flüsterte sie.
Er ließ nicht locker. »Für mich nicht. Ich denke da anders. Ich halte mich an das Versprechen.«
Ja, er würde sich daran halten, das wußte sie auch. Michelle erkannte, daß sie in einer Sackgasse steckte und sie mit normalen Argumenten nicht verlassen konnte. Deshalb versuchte sie es auf eine andere Art und Weise. So gut wie möglich schaute sie die feinstoffliche Gestalt vor sich an und fragte dann mit leiser Stimme: »Du liebst mich doch, nicht wahr? Du liebst mich wie ein Bruder seine Schwester nur lieben kann? Oder irre ich mich da?«
»Nein, Michelle, du irrst dich nicht. Aber du weißt, daß ich dich liebe. Du hättest nicht zu fragen brauchen. Wäre ich denn sonst zu dir gekommen?«
Michelle riß sich zusammen, auf keinen Fall sollte Alain ihre innere Zerrissenheit merken. »Verwechselst du nicht Liebe mit Egoismus, Alain? Kommt es dir nicht nur auf dich an? Darauf, daß du deine Pläne durchziehen kannst? Ich bin für dich doch Nebensache und nur so etwas wie eine Beigabe…«
»Das kannst du nicht sagen.«
»Doch, doch! So sehe ich es. Ich habe die Liebe anders kennengelernt, tut mir leid.«
»Wie denn?«
»Liebe ist das Gegenteil von dem, was du willst. Liebe heißt auch Verzicht und das Zurückstellen der eigenen Interessen. So und nicht anders sehe ich es. Wenn du mich wirklich liebst, Bruder, dann wirst du auf mich verzichten. Dann wirst du mich den anderen Weg gehen lassen, und zwar meinen Weg.«
»Trennung?« fragte er leise.
»Ja, auch das. Ich bleibe hier in meiner Welt. Du aber ziehst dich wieder zurück. So liegen die Dinge für mich. Du mußt dich wieder in deinen Bereich zurückziehen. Wir sind einfach zu verschieden. Laß uns Bruder und Schwester bleiben, aber laß uns auch in verschiedenen Welten leben. Darum bitte ich dich. Es ist doch nicht zuviel verlangt, wenn du so an mir hängst.«
Michelle war froh, diese Worte ausgesprochen zu haben, und sie war gespannt auf die Reaktion ihres Bruders. Der schaute sie für einen langen Moment an. In einem bleich-weißen Gesicht entdeckten sie keine Regung. Er sah völlig normal aus. Da er in den nächsten Sekunden nichts sagte, regte sich in ihr wieder die Hoffnung, den richtigen Tonfall und die richtigen Worte gefunden zu haben.
Michelles Hoffnung zerbrach, als er den Kopf schüttelte. »Nein«, hörte sie es aus seinem Mund strömen. »Nein und nochmals nein. Es wird nicht geschehen. Ich lasse mich nicht von diesem Weg abbringen. Es ist unser Schwur. Wir haben ihn mit unserem Blut besiegelt, Schwester. Das Versprechen gilt für mich über den menschlichen Tod hinaus bis in alle Ewigkeiten.«
»Aber du bist nicht ich, Alain. Du hättest dich nicht umzubringen brauchen.«
»Ich konnte nicht anders. Ich war zu neugierig. Ich hatte schon meine Begleiter kennengelernt. Sie haben mir von dieser anderen Welt und Sphäre berichtet. So erwachte in mir die große Sehnsucht. Ich erlebe jetzt das absolut Neue und Wunderbare, genau das möchte ich mit dir teilen, Michelle.«
Er blieb hart, und Michelle fand auch keine Möglichkeit mehr, diese Schale aufzuweichen. »Etwas ist immer gleich geblieben«, flüsterte er ihr zu. »Es hat sich auch in der neuen Welt nicht verändert. Das ist mein Messer. Unser Messer, das du kennst. Wir haben es damals schon als Kinder genommen. Ich weiß noch, wie Mutter es gesucht hat, weil
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