1129 - Das Blutmesser
ich bin sogar bereit, mich selbst zu töten.
Es war für sie schrecklich, mit diesem Wissen zu leben. Zumindest die letzten Sekunden in ihrem Leben.
Alain war auch noch da. Er ließ sie nicht aus dem Blick und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Er hatte recht. Sie brauchte das Messer nur von einer Seite zur anderen zu ziehen, dann war die Kehle durchgeschnitten.
Seine Augen! Sie waren auf einmal so groß und auch gierig. Sie saugten sich in ihrem Gesicht fest. Die Blicke wollten sie noch einmal hypnotisieren und ihr beibringen, daß sie die Bewegung durchführte.
Ohne es richtig zu wollen, hatte sich Michelle aufrecht hingekniet und den Rücken durchgedrückt. Die Hand mit dem Messer zitterte nicht einmal, sie blieb so ungewöhnlich ruhig. Wie bei einem Menschen, der sich mit seinem Schicksal abgefunden hat.
Der Schrei stammte nicht von ihr!
Alain hatte ihn ausgestoßen. Es war auch mehr ein Würgen gewesen.
Wie bei einem Menschen, dem jemand die Luft abgeschnitten hatte. Das war bei einem Toten nicht möglich. Trotzdem hörte sie dieses würgende Geräusch, und sie sah auch, wie sich Alain zur Seite drehte, die Arme in die Luft riß, und zugleich ein Ruck durch ihre rechte Hand ging, in der sie das Messer hielt.
Jetzt nicht mehr, denn plötzlich wurde es ihr aus der Faust gerissen!
Das Gesicht ihres Bruders veränderte sich zu einer häßlichen Fratze. Michelle spürte noch den kalten Schlag, der ihren Körper traf, dann kippte sie einfach in das nasse Gras hinein und blieb bewegungslos liegen. Von Alain sah sie nichts mehr, aber sie glaubte, vor ihren Augen und ganz in der Nähe einen geisterhaften Tanz zu erleben, als wären dort Nebelbänke zerrissen worden.
Noch einmal tauchte ihr Bruder auf. Als sich drehender Gegenstand innerhalb des Nebels. Dann war er weg. Wie von den Schwaden geschluckt, und auch das Messer gab es nicht mehr.
Michelle lag auf der Wiese. Sie atmete schwer und konnte noch immer nicht fassen, daß sie noch am Leben war.
Sie wollte auch nachfühlen und tastete ihren Hals vorsichtig ab. Nein, es war keine neue Wunde entstanden. Was sie fühlte, war die dünne, leicht feuchte Kruste der alten.
Sie dachte über sich nach. Auch über ihre Angst, über das Erlebte. Dabei atmete sie heftig. Die Feuchtigkeit war durch den Stoff des roten Kleids gedrungen, so daß es an gewissen Stellen an der Haut klebte.
Ich lebe noch! schoß es ihr durch den Kopf.
Um sie herum lag der Nebel. Eine weißgraue Schicht, noch mit Tageslicht gefüllt. Es war für Michelle so fremd. Darin hatten sich die unbekannten Geister aus anderen Welten versammelt, die mit ihren kalten Totenkörpern an ihr entlangstrichen.
Eine dünn klingende Männerstimme erreichte sie. Michelle horchte auf.
Ihr Bruder hatte nicht nach ihr gerufen, und die Stimme kam ihr auch nicht fremd vor.
Sie brauchte eine gewisse Zeit, um nachzudenken, dann fiel es ihr wieder ein.
Das war John Sinclair, der nach ihr gerufen hatte. Er gab auch nicht auf.
Sie hörte ihren Namen noch zweimal durch den Nebel klingen.
Michelle gab mit einem Schrei Antwort. Er war nicht besonders laut. Sie konnte nur hoffen, daß Sinclair ihn trotzdem wahrnahm. Auf dem Boden hockend und zum Haus hin gedreht, wartete Michelle ab.
Aus dem Dunst löste sich eine Gestalt. Sie war zuerst nur ein Schatten, der auch nicht unbedingt auf sie zulief, sondern an ihr vorbeiglitt.
Sie rief noch einmal.
John blieb stehen. Er drehte sich.
Michelle Maron winkte.
Sekunden später war er bei ihr.
***
Ich sah sie liegen. Ich ließ mich fallen und rutschte neben sie, und ich wußte, daß sie gerettet war. Mein Blick war sofort auf ihren Hals gefallen. Dort zeichnete sich nur der erste dünne Strich ab, aber nicht mehr. Es war nicht zum Äußersten gekommen, und so konnte auch ich erst einmal tief durchatmen.
Michelle sagte zunächst nichts. Sie lag in meinen Armen. Ich schaute auf ihr Gesicht und lächelte aufmunternd. Sie klammerte sich an mir fest.
Ihre Augen waren irgendwie leblos. Wahrscheinlich war sie dabei, den Schrecken zu überwinden, der sie noch bis vor kurzem in den Klauen gehalten hatte.
»Alain war hier.«
»Ja, das dachte ich mir.«
»Ich sollte mich umbringen. Er hatte das Messer bei sich.«
»Wo ist er jetzt?«
»Weg. Er hat es mitgenommen. Er ist auch weg. Das Messer lag schon an meiner Kehle, aber dann war er plötzlich verschwunden. Einfach so. Ich kann es auch nicht begreifen.«
»Sei froh, Michelle.«
»Ja, das bin ich. Nur - warum?«
Ich hätte
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