1134 - Alissas Vater
stehen.
Nichts hatte sich in all den Jahren verändert. Es war weder umgebaut noch abgerissen worden. In den Fensterscheiben fing sich das blasse Licht der Sonne, und selbst die Tür zeigte keine Spuren einer gewaltsamen Öffnung.
Sie ließ sich sogar aufdrücken.
Ihr Herz schlug schneller, als sie das düstere Gebäude betrat. Es gab keine Wärme um sie herum.
Alles war so kalt geworden, nur war es eine andere Kälte als die, die sie kannte. Nicht vom Wind erzeugt und auch nicht von einer tiefen Temperatur, hier hatte sich etwas anderes eingenistet, das sie nicht kannte. Diese Kälte war anders. Fremd. Sie kam überall hin. Es gab keinen Platz, der wärmer war. Die Kälte blieb gleich, sie hatte alles eingefangen, und es war ihr gelungen, sich auszubreiten wie ein Schatten. Aber Franca gab zu, daß ihr diese Kälte nicht unangenehm war. Sie erinnerte sie sogar an etwas, das schon lange zurücklag. Sehr lange. Damals bei ihrem Treffen mit Aslan.
Schon immer hatte Franca gespürt, daß sie etwas Besonderes war. Eine Frau, die lieben konnte, die dabei von Kräften angetrieben wurde, die sie selbst nicht beherrschte, die aber tief versteckt in ihrer Kindheit ihren Ursprung hatten.
Sie erinnerte sich an die letzte Begegnung mit Aslan. Da war es aus ihr herausgebrochen. Da hatte sie ihm den Triumph gezeigt. Da war das andere Gefühl blitzartig an die Oberfläche gestoßen. Es hatte die Oberhand bekommen. Es war das echte Erbe gewesen, das ihr in die Wiege gelebt worden war.
Und jetzt?
Es kehrte zurück. Stärker als zuvor. Mächtiger als damals. Es war wie eine Flut. Sie hörte eine schrille Musik in ihrem Kopf. Alles drehte sich vor ihren Augen. Plötzlich erschienen Bilder wie aus dem Nichts, und sie ging automatisch weiter durch die leeren Räume, als hätte sie hier schon immer gewohnt.
Erinnerungen aus der Kindheit stiegen in ihr hoch. Sie sah sich als kleines Mädchen. Sie sah Menschen um sich herum. Erwachsene, die sie umtanzten. Sie hörte sich schreien. Sie sah Feuer in die Höhe schlagen, und sie sah in den Flammen ein furchtbares Gesicht, wie es kein Mensch haben konnte.
Es war eine Fratze. Es waren böse Augen. Sie ging in das Feuer hinein, und sie hörte die Schreie der Zuschauer.
»Sie liebt den Teufel. Sie ist ein Kind der Finsternis. Der Teufel will sich ihrer annehmen. Er holt sich ihre Seele. Er ist ein ganz anderer als wir, und er will sie im Feuer der Hölle verbrennen.«
Sie verbrannte nicht.
Sie ging als Kind durch das Feuer, sie blieb am Leben, und die anderen Mitglieder des Clans staunten sie nur an. Von diesem Zeitpunkt an war sie etwas Besonderes. Manche sprachen von einem Kind des Teufels, andere von den Segnungen der Hölle.
Man stieß sie nicht aus, aber man wollte auch nicht viel mit ihr zu tun haben. Selbst die Mutter wandte sich von ihr ab, der Vater lebte nicht mehr, und so wurde sie von einer alten Tante großgezogen. Sie entwickelte sich zu einer Schönheit, und mit vierzehn Jahren, als ein Freund versuchte, sie zu vergewaltigen, erstach sie ihn, und es tat ihr nicht einmal leid.
Das war wieder ein Wendepunkt gewesen. Bei Nacht und Nebel verließ sie den Clan und verschwand. Sie kehrte nie wieder zurück und wurde vergessen.
Das weitere Leben kannte sie noch gut. Die Erinnerung daran war prächtig. Sie hatte sich immer als etwas Besonderes gefühlt und auch unter einem gewissen Schutz stehend, und sie hatte auch gewußt, daß sie sich dem Beschützer gegenüber dankbar zeigen mußte. Deshalb die Verführung des Mönchs. Ihr größter Triumph. Ein Kind von ihm. Von einem, der auf der Gegenseite stand und nun die Seiten gewechselt hatte, denn das hatte sie durch den gedanklichen Kontakt mit ihm erfahren. Er war nicht mehr der fromme Mönch. Er hatte ebenfalls Kontakt zu dem Großen gefunden. Der Meister beschützte auch ihn.
Franca hatte das Kloster zwar nicht betreten. Trotzdem wußte sie, wohin sie zu gehen hatte. Im schwachen Grau der Düsternis sah sie den Umriß der Tür und wußte genau, daß sie der nächste Weg zum Ziel war, wo es dann ein endgültiges Wiedersehen geben würde.
Hinter der Tür begann die krumme Steintreppe, die tief in eine feuchtkalte Unterwelt hineinführte.
Es war nicht so finster, denn von unten her drang ihr ein hellerer Schein entgegen, der sich ausbreitete wie ein See.
Franca zögerte nicht länger. Ihr war klar, daß es nur diesen Weg gab.
Stufe für Stufe ging sie dem Lichtschein entgegen. Ihre starren Gesichtszüge lösten sich dabei
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