1145 - Das Haus der Selbstmörder
Güte, es hat sich etwas verändert. Da ist etwas in mir. Ich kann nicht dagegen ankommen, weil es zu stark ist. Der Druck breitet sich aus. Von unten nach oben.« Ich hörte ihm zu, und er hing dabei zitternd in meinen Armen. Der Mund stand jetzt offen und zuckte, als wollte er all das herauslassen, was sich im Innern aufgebaut hatte.
»Ich sterbe…«
»Nein, du…«
Jack Kessler ließ mich nicht ausreden. »Doch, John, doch, ich sterbe. Aber es ist ein anderer Tod als bei den meisten Menschen. Es ist ein besonderer. Er ist dieser Welt angemessen, begreifst du das? Ich habe den Tribut zu zahlen, und ich kann mich gegen diese Welt nicht wehren. Es ist für mich vorbei. Ich werde einen der Verfluchten durch meine Seele erlösen. Ja, das ist es…«
Die letzten Worte hatte er lauter gesprochen, und sie erinnerten mich an Schreie. Er riss seinen Mund noch weiter auf, auch die Augen wurden größer, und dann tanzte seine Zunge mit zuckenden Bewegungen in Richtung Unterlippe. Gleichzeitig weiteten sich die Nasenlöcher, und aus den Poren drang der Schweiß zuerst in Tropfen, die sich anschließend zu Bächen vereinigten. Sie rannen wie zittrige Gitter an seinem Gesicht herab.
Das nahm ich nur am Rande wahr. Das wirklich Schlimme und Schreckliche sah anders aus. Es bewies mir zudem, dass er nicht gelogen hatte, denn die andere Welt hielt ihn fest, und sie hatte ihn auch bereits übernommen.
Es war nicht die Zunge, die sich auf die Unterlippe geschoben hatte. Es sah nur so ähnlich aus. Es waren drei, vier dieser rötlichen Würmer, die den Weg aus dem Körper hervor nach draußen fanden.
Meinem ersten Schreck folgte auf der Stelle ein zweiter. Nicht grundlos hatte Jack Kessler seine Nasenlöcher geweitet, denn dieser Öffnungen schufen Platz für die nächsten Tiere, die von einer Schleimspur geleitet der Oberfläche entgegenglitten…
***
Sie standen im Haus und schauten sich um. Es war für Jane und Suko wahrhaftig so gut wie nichts zu sehen. Es stimmte alles. Dieses ehemalige Gefängnis sah nicht mehr so aus wie früher. Keine Wände, keine Zellen, deshalb auch keine Gittertüren. Das Innere schien regelrecht ausgebrannt worden zu sein, und es wurde von einer schon kalten und stockigen Totenluft durchweht, die bei Jane eine Gänsehaut bewirkte.
Eines allerdings war geblieben. Beide sahen den Mittelaufgang. Eine Treppe führte bis nach oben, und ihr Blick wurde durch nichts eingeschränkt, so sahen sie die untere Seite des Dachs, gegen die Suko den Strahl seiner Lampe gerichtet hielt.
Jane ging um ihn herum und kontrollierte die Fenster. Sie traute sich nicht zu dicht an eines heran, aber was sie sich schon gedacht hatte, traf hier zu.
Es gab nur das Licht innerhalb der Fenster. Es floss weder nach außen noch nach innen. Es blieb in diesem Viereck, als wäre es hineingemalt worden.
Auf Jane wirkte es zudem nicht wie normales Licht. Sie suchte nach einem Vergleich, denn ihr war auch die unterschiedliche Dicke aufgefallen, so dass sie mehr an eine puddingartige Masse erinnert wurde. Es gab innerhalb des Lichts leichte Wellen und Ausbeulungen, und darüber wunderte sie sich.
Keine Lichter, eher Tore.
Immer mehr festigte sich in ihr die Erkenntnis, dass die Öffnungen Wege in die andere Welt oder auch in die anderen Dimensionen waren. Das Haus, die Vergangenheit und auch die Gegenwart bildeten so etwas wie ein Dreieck, und Jane sowie Suko befanden sich ausgerechnet in dessen Zentrum.
Jane drehte sich um. Sie fragte Suko: »Haben sich die Selbstmörder nicht aus dem obersten Fenster in die Tiefe gestürzt?«
»Richtig.«
»Dann wäre das da oben ja unser Ziel.«
»Ist es auch.«
Jane schwieg. Sie stellte bewusst keine Frage mehr, denn ihr war auch der Klang ihrer Stimmen aufgefallen, der nach jedem Wort von einem Nachhall begleitet war. So klangen Stimmen nicht in einem normalen Raum, sondern in einer Halle oder in einer Gruft.
»Bleib hinter mir«, sagte Suko und steuerte schon die Treppe an. Er hatte sie zuvor so gut angeleuchtet wie möglich und keine gefährlichen Stellen auf den Stufen erkennen können. Das Gestein war alt, zum Glück nicht brüchig, und so setzte Suko einen Fuß auf die unterste Stufe und ging langsam, aber kontinuierlich höher.
Da innerhalb des alten Hauses kein Licht brannte und beide von dieser fettigen, grauen Dunkelheit umfangen wurden, kam sich Jane vor wie jemand, der zwar Halt unter den Füßen spürte, jedoch das Gefühl nicht loswurde, ins Leere zu treten. Sie musste
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