1150 - Die Dunklen Apostel
flüsterte er. Jetzt klang seine Stimme nicht mehr so tief. Ich spitzte die Ohren und freute mich, wenn ich Teile seiner Antwort verstand. »Wir waren Brüder. Wir haben uns von der Welt damals zurückgezogen, weil wir das einfache Leben führen wollten. Wir alle stammten aus sehr reichen Familien, doch wir merkten auch, dass dieser Reichtum nichts taugte, wenn er auf dem Rücken anderer erreicht wurde. So schworen wir dem Saus und Braus ab. Dem Kampf, der Unterdrückung und auch den zahlreichen Frauen, die wir als Adelige gehabt haben. Wir bildeten die Gruppe der Dunklen Apostel, um unserem neuen Leben auf dieser Insel nachgehen zu können. Hier haben wir unsere Häuser und unsere Kirche gebaut. Wir lebten sehr einfach, weil wir wussten, dass der wahre Reichtum auf uns wartete und uns erst später gegeben wurde.«
»Was ist das für ein Reichtum gewesen?«
»Das Leben.«
Karina schüttelte den Kopf. »Nein, das Leben habt ihr hinter euch.«
»Nur das erste.«
»Aha. Ihr habt auf ein zweites und auf ein drittes Leben gehofft. Ist das so?«
»Es war unser Streben.«
Karina unterbrach ihr Gespräch mit ihm und wandte sich an mich. Sie wirkte aufgeregt. »John, weißt du, auf was das hinausläuft?«
»Ich denke da an die Wiedergeburt.«
Karina schlug gegen ihre Stirn. »Wunderbar, echt. Einmalig. Dann liege ich nicht so falsch. Ich habe schon gedacht, ich würde spinnen. Aber das hier ist keine Wiedergeburt, wie man sie normal erlebt oder wie normal darüber gesprochen wird. Ich glaube nicht, dass die den gleichen Hintergrund haben wie andere Religionen. Ich kann mir eher vorstellen, dass sie in einen Kreislauf hineingeraten sind. Ich glaube, dass wir den Faden dort aufnehmen müssen, als sie starben. Sie legten sich in die Särge, sie vergingen, sie wurden zu Skeletten…« Karinas Augen weiteten sich. »Und dann? Was geschah dann mit ihnen?«
»Das musst du Dimitri fragen. Vielleicht gibt er dir ja eine Antwort. Aber dein Gedanke ist richtig.«
»Gut, gut, es geht weiter.« Sie nickte sich selbst zu und fuhr mit der Hand durch ihr Gesicht, als wollten sie einen Schleier wegwischen.
Dimitri hatte sich nicht vom Fleck gerührt und uns nur angeschaut. Auch in seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen. Es blieb ebenso starr wie sein Körper.
»Was habt ihr getan hier auf der Insel im See? Was habt ihr in dieser Einsamkeit gesucht?«
»Die Erfüllung!«
»Nicht Gott?«
»Die Kraft steht über allem. Aber es ist ein weiter Weg bis hin zu ihm. Ein sehr weiter. Ein Weg voller Prüfungen, die wir erst noch hinter uns bringen müssen.«
»Verstehe«, flüsterte Karina. »Durch eure Wiedergeburten.«
»So sahen wir es.«
»Habt ihr es denn geschafft? Ich meine, ich kenne mich nicht besonders darin aus, aber ich glaube zu wissen, dass man immer als verschiedene Wesen wiedergeboren wird. Nicht unbedingt als Mensch. Auch mal als Tier oder als Pflanze.«
»Es war bei uns anders. Wir suchten nach einem anderen Weg, und wir haben ihn gefunden.«
»Darf ich fragen, wie?«
»Ja. Wir wussten, dass wir sterben würden. Der eine früher, der andere später, bis schließlich nur noch einer zurückblieb. Einsam, verlassen. Aber wir waren eine Gruppe, und wir haben uns all die Jahre auf unsere Rückkehr konzentriert. Wir wussten, dass wir nicht als Tier oder Pflanze zurückkehrten, sondern als das, was wir einmal gewesen waren. Wir würden uns so treffen, wie wir vor unserem Tod gelebt hatten. Deshalb gingen wir gemeinsam in den Tod. Wir haben unsere Särge selbst gezimmert und uns in ihnen zum Sterben hineingelegt. So wie wir waren.«
»Habt ihr euch selbst das Leben genommen?«
»Ja. Wir nahmen Gift.«
Karina schaute mich an und flüsterte: »Das kann doch nicht wahr sein. Das ist ja wie bei diesen verdammten Sekten, von denen wir immer wieder gehört und gelesen haben.«
»Frag ihn weiter.«
»Ja, gut.« Sie konzentrierte sich und flüsterte: »Nach eurem Selbstmord seid ihr verwest. Nur Skelette blieben zurück, aber ich habe dich anders erlebt, Dimitri. Es ist nicht lange her. War es deine erste Wiedergeburt oder die zweite oder die dritte?«
»Die erste.«
Karina staunte. »Nach so langer Zeit? Heute…«
»Nicht an diesem Tag. Wir leben schon länger in unserer ursprünglichen Gestalt. Dann aber kam eine Macht über uns, die uns aus dieser Welt verschwinden ließ…«
»Das war dein Kreuz, John.«
»Ich weiß.«
»Wie war das möglich?«, fragte Karina weiter. »Hast du dafür eine
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