1155 - Luzifers große Stunde
auch sehr licht geworden, so zog es sich jetzt immer mehr zusammen. Das passierte an allen Himmelsrichtungen gleichzeitig.
Wir konnten es auf dem Boden verfolgen, über den lange, graue Schatten hinwegwanderten. Zugleich verdüsterte sich über unseren Köpfen das Sonnenlicht, und auch die Temperatur änderte sich.
Sie fiel allmählich ab, und es wurde kühler.
Niemand sprach. Selbst Ben Adams hielt sich zurück. Er hatte sich vor einem hohen Grabstein aufgebaut, an dessen obere Seite zwei Hände von den verschiedenen Seiten her griffen und es so aussah, als wollten sie den Mann erwürgen.
Der Spuk kam. Er übernahm die Welt. Er war die Nacht. Er schickte sein Reich, und er schickte sich selbst. Wir konnten die herandräuende Finsternis nicht stoppen. Es war auszurechnen, wann wir nicht mehr in der Lage waren, etwas zu sehen.
Raniel, Suko und ich bildeten ein Dreieck. Unternehmen konnten wir nichts. Wir waren einfach gezwungen, dieser Veränderung zuzuschauen, und die Dunkelheit schluckte alles, was sich ihr in den Weg stellte.
Sie fiel über die Bäume. Sie senkte sich über Sträucher und Hecken. Sie umfing die Gräber und Steine, aber sie wurde nicht so dicht, wie ich sie kannte.
Irgendwann - der Friedhof war schon so gut wie verschwunden - stoppte sie. Kein Verdichten mehr.
Die Schwärze ließ sich erraten, denn sie zeigte noch Lücken auf. So sah ich die Gestalten der drei anderen wie dunkle Säulen in meiner Nähe stehen, und das blieb auch so. Wir alle sahen grau aus, denn die Finsternis des Spuks hatte auch die letzten Farbe genommen.
Es war noch kälter geworden, und diese Kälte kannte ich. Sie hatte nichts mit der Außentemperatur zu tun. Sie war die Kälte der Seele, die keine Freude mehr empfinden konnte. Sie war so etwas wie eine dämonische Kälte, die sich nicht nur außen auf mich legte, sondern mich auch innerlich einnahm.
Es war für mich schwer, die Dunkelheit zu beschreiben oder zu begreifen. Mit einer natürlichen hatte sie nichts gemein, und auch am Abend oder in der Nacht sahen die Menschen nicht so aus wie auf diesem Friedhof. Wir verschwanden ja nicht. Unsere Gestalten malten sich sogar in scharfen Umrissen vor dem unnatürlichen Hintergrund ab.
Ich suchte nach den roten Augen des Spuks. Vergebens. Die Finsternis wurde durch nichts unterbrochen. Sie umklammerte mein Herz, sie nahm mein Gefühl für sich ein. Allmählich stahl sich die Furcht in meine Seele. Ich umfasste das in der Tasche steckende Kreuz und stellte fest, dass das Metall klebrigkalt war.
Die anderen hatten ebenfalls unter dem Ansturm der Finsternis zu leiden, wobei sich Suko und Raniel besser hielten als Ben Adams, der seinen Standort nicht verlassen hatte und unter dem Druck dieses unnatürlichen Angriffs stöhnte. Er stand auch nicht mehr und hockte auf dem Boden wie das berühmte Häufchen Elend.
»Sie haben auf uns gewartet«, sagte der Gerechte. »Sie wollen alle drei haben.« Er hatte normal gesprochen, doch seine Stimme klang durch die Finsternis verändert. Viel dumpfer. Beinahe schon hohl, als stünde er in einem Tunnel.
Mir rieselte es kalt den Rücken hinab. Der Gerechte erhielt weder von Suko noch von mir eine Antwort. Wir suchten nach Lücken in diesem lichtlosen Schwarz.
Sie taten sich nicht auf. Wir steckten in einem kalten Gefängnis fest, aber es änderte sich trotzdem etwas, denn jetzt sahen wir die beiden roten Punkte.
Die Augen des Spuks!
Es war schon komisch, aber irgendwie fühlte ich mich schon erleichtert, als ich sie sah. So hatte alles wieder eine gewisse Ordnung bekommen.
Die Augen schwammen in der Dunkelheit. Sie zitterten nicht, aber sie waren auf uns gerichtet, und dann hörten wir die Stimme aus der Schwärze über den Friedhof säuseln. Der Spuk meldete sich. Er sprach jedes Wort überdeutlich aus.
»Er will mich zerstören. Er will mein Reich zerstören, und er will mich dabei mit den eigenen Waffen schlagen. Er hasst es, wenn die Seelen der Dämonen mein Reich vergrößern. Ich habe den Hass bereits seit Urzeiten erlebt, und er hat es immer wieder versucht. Bisher habe ich standhalten können. Das steht jetzt auf der Kippe. Er holt sich die Seelen und formt daraus neue Geschöpfe. Sie sind voller Trauer, denn das ist nicht mehr ihre Welt. Sie wollen keine Menschen mehr sein und auch keine Dämonen. Sie wollen nur noch…«
Wir erfuhren nichts mehr, denn die Stimme des Spuks versickerte in der Schwärze. Etwas passierte.
Wir sahen es an Hand der Augen, die sich hektisch
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