1156 - Albtraum Elektra
worden ist und er ihm zur Seite stehen wollte. Jedenfalls hat er die Nacht überstanden.«
»Okay, dann werde ich mich mal zurückziehen. Grüß ihn, wenn er kommt und sag ihm, dass ich ihn im Büro sehnlichst erwarte.«
Shao dachte sofort einen Schritt weiter. »Gibt es vielleicht Probleme, John?«
»Momentan nicht. Die könnten sich allerdings ergeben, wenn ich nicht aufpasse.«
Sie wollte noch mehr wissen, aber ich zog mich bereits zurück und ging auf den Lift zu. Die Fahrt zum Dienst mit der U-Bahn war mir nicht neu. Außerdem kam ich immer besser durch als mit dem Wagen, denn morgens ist auf den Straßen Londons immer die Hölle los. Ich hatte es auch nicht weit bis zu einer Station.
Das Wetter hätte frühlingshaft sein sollen, doch der April machte seinem Namen wieder mal alle Ehre. Er war zu kalt. Er brachte den frischen Wind aus Nord mit, der sich auf der Haut verdammt kalt anfühlte. Der Himmel war nicht nur von dicken, weißen Wolken bedeckt, zwischendurch zeigte er helle, blaue Flecken. Dann schien die Sonne im knalligen Gelb und blendete mich. Im Westen hatte sich eine breite, graue Wand aufgebaut. Da kam ein Wetter, das man am liebsten vergaß. Im Wetterbericht waren sogar Gewitter angesagt worden. Eben ein typischer Aprilwechsel.
Im Schacht der U-Bahn war es recht eng und auch wärmer. Die Menschen drängten sich auf den Bahnsteigen und warteten auf die Schlangen aus Metall. Ständig fuhren Züge ein und ab. Sie spieen nur wenige Menschen aus, saugten die meisten in sich hinein wie in die Kammern eines gefräßigen Bauchs.
Ich stand mit den anderen zusammen in der Menschentraube. Jung und Alt waren vertreten. Manche lasen schon jetzt die Zeitung, andere unterhielten sich in unterschiedlichen Lautstärken, und ich beschäftigte mich gedanklich noch immer mit dem Anruf.
Es war der erste gewesen. Es hätte eigentlich ein zweiter folgen müssen, wenn die andere Person am Ball bleiben wollte, doch damit rechnete ich komischerweise nicht. Den Grund kannte ich selbst nicht. Es war die reinste Spekulation, aber dennoch ein Stück Wahrheit. Ich war davon überzeugt, dass die unbekannte Frau zu anderen Maßnahmen greifen würde. Eine nächste Begegnung konnte durchaus persönlicher werden.
Einen Zug musste ich noch fahren lassen und danach nur kurze Zeit warten, bevor der nächste einfuhr. Das war meiner. Die Türen öffneten sich. Die Wagen waren noch nicht so voll. Da ich ziemlich weit vorn stand, konnte ich mich auch hineindrängen. Einen Sitzplatz fand ich natürlich nicht.
Ich wollte auch nicht weit in den Wagen hinein, und so blieb ich nahe der Tür stehen.
Vor mir quollen weitere Fahrgäste in den Wagen. Zu fast hundert Prozent Berufstätige. Manche elegant angezogen, um ihren Jobs in irgendwelchen Banken und Brokerhäusern nachzugehen. Das galt für Frauen ebenso wie für Männer.
Locker dagegen sahen die jungen Leute aus. Viele von ihnen sogar flippig. Immer auf der Suche nach den neuesten Klamotten-Trends und Haarschnitten.
Die Türen schlossen sich, und jetzt war es verdammt eng. Um mich herum schwebten die verschiedensten Düfte.
Mischungen aus Parfüm und Rasierwasser. Wie oft am Morgen oder am Abend in einem Hotelaufzug.
Der Zug fuhr an. Der knappe Stoß, das Rütteln, das schnelle Festhalten, all das gehörte dazu. Hier kümmerte sich kaum jemand um den anderen. Für viele war die Morgenlektüre wichtig, und wer keine Zeitung las, hielt den Blick zumeist gegen den Boden gerichtet.
Das tat ich nicht. Ich schaute mir meine Mitreisenden an, so gut wie möglich. Das künstliche Licht ließ alle Gesichter irgendwie unnatürlich aussehen. Bleich und fleckig. Nahe mir stand eine junge Geschäftsfrau um die 30, die einen Aktenkoffer aus rotem Leder in der linken Hand hielt. Mit der anderen hielt sie sich fest. Sie trug das übliche Kostüm und einen hellen, offen stehenden Mantel darüber. Das blonde Haar war mit grauen Strähnen durchzogen. Sie hatte es am Morgen wohl recht eilig gehabt, denn das Make-up im Gesicht sah recht fleckig aus.
Als sich unsere Blicke begegneten, lächelte ich neutral. Sie tat es nicht und hob nur die Augenbrauen an. Wahrscheinlich hielt sie mich für minderbemittelt.
Der nächste Halt.
Es stiegen nur wenige Leute ein und noch weniger aus. Deshalb wurde es im Wagen noch enger.
Neben mir stöhnte die Geschäftsfrau auf. Das Stöhnen war nicht aus Ärger oder Langeweile geboren, es hatte schon einen bestimmten Grund. Sie war auch blasser geworden, schwankte
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