116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Seufzer der Erleichterung ausstoßen, endlich ein paar ruhige Augenblicke zu verbringen. Die Chinesen aber würden wieder grau vor dem milchigen Himmel. Sie würden umhergehen oder sich auf das Mäuerchen setzen und eine Zigarette anzünden. Sicher, am Ende würden sie ein paar förmliche Worte miteinander wechseln, aber es würde nicht andauern. Sie hatten nicht die riesigen Meere und dann eine Region Italiens nach der anderen durchquert, um dort wieder irgendeine Form von Gemeinschaft, irgendeine Form von Komplizenschaft zu erschaffen. Nichts Unechtes konstruieren, sich auf die wesentlichen Worte beschränken, das war ihr einziges Mittel, um wenigstens einen Hauch von Würde zu bewahren. Ein paar Überraschungen hatte es gleichwohl gegeben, ein paar echte Begegnungen, schließlich benötigte man Krücken für diese Tage, aber zwischen den Kiefern der brüllenden Welt Freundschaften zu knüpfen, das war zu viel verlangt, das ließ ihr Schamgefühl nicht zu. Also gingen sie umher, drehten wieder um, teilten im verbliebenen Licht den Raum unter sich auf, und ihr Grau ging in Schwarz über, so dass sie mit der Umgebung verschmolzen, bis auf diejenigen, die sich noch kurz unter dem schwachen Schein der Lampe neben dem Eingang des Camerone versammelten. Und als Nächstes würden die Chinesen, hundertsechzehn oder so, nacheinander in den großen Speisesaal hineingehen, der an den Schlafsaal angrenzte. Ohne viel Aufhebens würden sie sich wieder hinsetzen, bis das Abendessen kam. Ohne viel Aufhebens, ja, denn das war ihre Art, die Gewalt dieses Ortes zu ertragen. Sie aßen und legten ihre kleinen Pakete mit Fragen neben sich ab. Warum hier bleiben, warum akzeptieren, warum bekam man diese Mahlzeit, obwohl man nichts getan hatte, um sie sich zu beschaffen, warum hatten diese Familien aus der Umgebung die Aufgabe zugewiesen bekommen, sie zuzubereiten, warum dieses Leben, in dem das Nichtstun schlimmer war, als man zugab: Zwang, warum? Wo war derjenige, der diese Konzentration von Menschen an einem Ort befohlen hatte, an der niemand in der Befehlskette etwas zu beanstanden gefunden hatte? Wo waren diejenigen, die ihn unterstützt und die seine Aufzeichnungen abgestempelt hatten? Warum hatte niemand dieses Verbrechen und seine Logistik gestoppt oder wenigstens dessen totale Nutzlosigkeit erkannt und gesehen, was das alles nach sich ziehen würde? Sie irgendwo hinbringen. Einen Ort auswählen. Sich für Isola entscheiden. Aber da sind Juden. Die Juden fortbringen. Die Chinesen hinbringen. Nicht mehr und nicht weniger. Irgendwo musste es einen Menschen in einem Büro geben, der sich diesen Plan ausgedacht hatte. Und hundertsechzehn Chinesen oder so fanden sich hier wieder, weil niemand etwas dagegen einzuwenden gehabt hatte, und warteten auf das magere Abendessen. Niemand verlangte etwas von ihnen. Sie existierten. Nachdem sie das Essen hinuntergeschlungen hatten, gingen sie, jeder in seinem Rhythmus, je nach Kraft oder der Farbe seiner Verzweiflung, zu ihrem Platz im Schlafsaal, um sich dort der großen Stille der Nacht zu stellen und die traurige Materie ihrer wachen Stunden, die furchterregenden Gedanken der letzten Minuten vor dem Einschlafen, wenn ihre Sehnsüchte wie in einer Schleife immer wieder vor ihren Augen auftauchten, die verschwundenen Hoffnungen und die zerstörten Beziehungen abzulegen.
In diesen Nächten, in denen die niedergerungenen Träume Fallen waren, gab es Gespenster, die von Zeit zu Zeit wiederkehrten. Manchmal schliefen die Gefangenen ein, um sie zu besuchen und ihnen, dem Schrecken zum Trotz, die unerwarteten Zuckungen einer fernen Erinnerung an ihre Menschlichkeit darzubringen: die eines absoluten und zärtlichen Mitgefühls. Gespenster, die Zigeuner von Tossicia.
1941
Isola liegt auf einer Fläche, die wie ein Plateau anmutet, eine Sanftheit, die nur Illusion ist, bevor man sich daran macht, die Hänge des Gran Sasso zu erklimmen. Wenn man von Teramo her kommt, stößt man zehn Kilometer davor, nach einigen Serpentinen durch Weideland, auf das Dorf Tossicia, das in einem engen Gebirgspass liegt. Isola breitet sich aus, Tossicia zieht sich zusammen, liegt eingezwängt am Waldrand. In Tossicia ist das Leben ruhig, es gibt eine kleine Kirche, Menschen, die hoffen, und die lokale Zweigstelle des nationalen Forstinstituts, die sich gegenüber der Sparkasse der Provinz Teramo befindet. Diese beiden Gebäude haben klar identifizierbare Funktionen, sind eindeutig ausgewiesen. Sie sehen aus wie
Weitere Kostenlose Bücher