116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Institutionen, die schon immer da sind. 1941 waren in diesen Gebäuden jedoch weder ein forstwirtschaftliches Institut noch eine Bank untergebracht. Sie trugen andere Namen, die ihrer Besitzer, Casa Mirti, Casa Fabi, am Rande der Piazza Regina Margherita. Sie hatten auch eine Funktion: Jene Häuser mitten im Dorf waren ein Lager.
Die Ersten, die man dort zusammenpferchte, waren Juden, die schon damals Vorgänger waren. Anfang 1941 dann hatte man sie nach Civitella gebracht. Zu der Zeit nahm die Vorgeschichte der zentralen Gefangenschaft aller in Italien lebenden Chinesen ihren Anfang. Die dumpfen Regungen der menschlichen Wut hatten noch nicht dazu geführt, sie alle an einem Ort zu versammeln, aber die Erschütterung hatte hier begonnen. Als ein paar von ihnen bei Wintereinbruch in dieses Dorf verbannt wurden, und dann immer mehr, war das ein Versuch. Eine Störung der Welt dieses Ortes, die anschließend von den Verantwortlichen mit Hilfe von Aufzeichnungen und regelmäßigen, wenn auch spärlichen Berichten überwacht wurde. Mit klinischer Sorgfalt wurde geprüft, ob die Verpflanzung womöglich abgestoßen würde. Es war eine Tektonik am Werk, die Gewichte der Zeiten des Krieges wurden ausbalanciert, und die Gründlichkeit in den militärischen Entscheidungen entsprach dem Irrationalen in den ersten Versuchen mit Konzentrationslagern, die von einer Armee aus Ideologen und Beamten auf den Weg gebracht wurden.
Tossicia war diese Vorgeschichte, der Moment und der Ort, an dem ihr Leben auf eine Spritze gezogen wurde. Eine Schleuse. Die, die Mailand gesehen hatten, die, die nahe der französischen Grenze festgenommen worden waren, die aus Neapel: Sie alle trugen eine doppelte Vergangenheit, ihr Leben und ihr kleines Stück Italien. Aber Italien bediente sich seiner Straßen und Bahngleise, um die neue, dringende und zwingend notwendige Umsiedlung der Chinesen zu organisieren. Ihre gemeinsame Geschichte begann auf dem Bahnsteig des Bahnhofs von Giulianova. Das war in der Region Teramo der Ort, an dem alle Internierten des Faschismus ankamen, um an ihr jeweiliges Ziel verbracht zu werden. Sie kamen dort an, in jenem Land, von dem ich spreche, manche als Familien, manche als Gruppen von einzelnen Männern, manche als zum inneren Exil verdammte Paare. Wen man sich in Giulianova begegnete, hieß das, dass man die letzten Dutzend Kilometer höchstwahrscheinlich zusammen zurücklegen würde. Die Ersten, die, bevor irgendwer vor Ort richtig Notiz davon nahm, erfuhren, dass in der Region Chinesen existierten, die man dort zusammenführte, waren somit all jene, die ein ähnliches Schicksal zu ertragen hatten. Deutsche Juden, politische Aktivisten, Zigeuner: Den Chinesen waren in einem Waggon einige von ihnen begegnet, denen sie gegenüberstanden, während die anderen bei ihrem Anblick ihre Ängste für einen Augenblick in Erstaunen eintauschten. Auf diese Weise waren die Chinesen für viele der Gefangenen in den Abruzzen die erste Begegnung gewesen, die ihnen allen gemein war, sozusagen als Einführung in die Thematik. Vom Bahnsteig aus wurden sie wie die anderen zur Pension Kursall gebracht, wo ihre Personalien aufgenommen und in ein Register eingetragen wurden. Sie wurden zuerst zu Kennnummern, dann brachte man sie in ihr Lager. Bei ihnen waren es Gruppentransporte im Lastwagen, die lange, gewundene Straße entlang, die in Tossicia endete. In diesen Lastwagen kam es zu ersten Wortwechseln zwischen ihnen, oder vielmehr war es ein Abladen von Worten, und sie lauschten den Worten der anderen. Da bekamen sie ein Gefühl für die Macht, die ihnen bei weitem überlegen war und mit ihnen nach Belieben verfuhr. Es war die Zeit, als sie in kleinen Gruppen ankamen, punktuelle Verhaftungen, glückliche Zufälle, günstige Gelegenheiten, Fleißarbeit. Es waren Männer, die die Welt hatten sehen wollen, und sie fanden sich auf diesem Irrweg wieder, und ihnen gegenüber saßen andere, die auch die Welt hatten sehen wollen und die wahrscheinlich aus der gleichen kleinen Region in China stammten wie sie. Jeder wurde für die anderen zu einer Schutzwand zwischen der Welt und ihnen. Dies war eine Form, die der Krieg annahm. Die Straße war steinig.
Keiner von ihnen wusste genau, wie dieses Lager entstanden war, aber jeder begriff, als immer mehr von ihnen ankamen, allmählich, was dieser Bestimmungsort für eine kalte Falle war. Alle Chinesen von Tossicia hatten zugesehen, wie immer mehr von ihnen an diesem Ort zusammengezogen wurden
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