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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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und wie gleichzeitig alle Nicht-Chinesen anderswohin transportiert worden waren. Bald schon gab es in diesen eiskalten und heruntergekommenen Unterkünften nur noch sie, in dieser Zerkleinerungsmaschine, die am Ende sogar das Rote Kreuz anprangerte. Die Organisation war während dieser ganzen Jahre in der Region nicht besonders aktiv gewesen, diese Schande aber sah sie. Wenn sie dann nach Isola kämen, wäre nicht mehr besonders viel zum Zerkleinern übrig. Dieser vorherige Aufenthaltsort hätte dann bereits so vieles zerbrechen lassen. Aber Tossicia selbst war die Schnittstelle, das Tor, durch das man in den Schatten eintrat, genau hier verlor man jede Hoffnung, genau hier kapitulierte man. Das hinter dem Pass isoliert daliegende, im Kastanienwald verlorene Tossicia war der Ort, an dem ihre Starre begann und an dem sie alle aufeinandertrafen, der Ort, an den man gebracht wurde, um dahinzusiechen, der Ort, den man nur durch eine Form von Gewalt wieder verlassen würde.
     
    In dieser Zeit, im Frühling 1941 , wurde der chinesische Franziskanerpater Antonio Tchang vom Missionskolleg in Assisi zu ihnen geschickt. Einige kannten ihn bereits, und zwar diejenigen, die eine Zeit lang in Brescia gelebt hatten, wo er zuvor für die Chinesen Venetiens Gottesdienste abgehalten hatte. Nachdem eine unbekannte Instanz in der Verwaltung des Vatikans ihn dorthin versetzt hatte, blieb Tchang während all der Monate, von Lager zu Lager, an ihrer Seite. Er war ein Rädchen in dem Mechanismus, der dafür sorgte, dass die Existenz der Chinesen ihre Kompaktheit behielt, die man hier versammelt hatte, Tausende Kilometer weit von den Dörfern entfernt, in denen sie geboren und aufgewachsen waren. Er war zu ihnen geschickt worden, damit er sich unter sie mischte, in der Annahme, dass all diese Chinesen sich doch sicher gut miteinander verständigen könnten, aber trotzdem war gerade er es, der sie an ihren Ausnahmestatus erinnerte, an ihr Leben außerhalb vom Leben. Ihr Verhältnis zu diesem Mann der Kirche, der auf so anderen Wegen hierhergelangt war als sie, würde immer das Brandzeichen von Distanz und Fremdheit tragen. Er war die Antwort Roms gewesen, das Eindringen der kirchlichen Macht in ihren Kerker. Er war aber deshalb kein getarnter Agent des mit Konzentrationslagern ausgestatteten Staates. Im Gegenteil, die Kirche achtete darauf, dass sie in den verschiedenen italienischen Lagern mit eigenen Augen sah, und ihr hatte eine der Stimmen gehört, die hin und wieder die schlimmsten Exzesse darin anprangerten. Die Kirche, das war jenes komplexe Räderwerk, das hin und wieder einen Skandal ausrief, während es sich ansonsten kriminelles Schweigen leistete. Diese selektive Wachsamkeit war keine Kühnheit, dafür wusste sie sich allzu gut mit den herrschenden Regeln zu arrangieren: Tchangs Mandat hatte alle Stufen der Lagerverwaltung passieren müssen, und faktisch war der Priester, gegen seinen Willen vielleicht kein Agent, aber doch zumindest ein Glied in einem totalitären System, zu dem Lager gehörten, mit Menschen darin. Auf seiner eigenen Ebene erhielt er eine Verbindung zwischen den Italienern und ihnen aufrecht, wohl wissend, dass diese Verbindung nichts anderes sein konnte als eine Kette.
    Aber welche Berechnungen seiner Mission auch vorangegangen sein mochten, und obwohl seine Funktion indirekt darin bestand, sie so gut wie möglich in Schach zu halten und Revolten zu verhindern, schöpfte der Mann aus seinem Inneren eine eiserne Energie, eine Kraft, und zwar die Kraft, ihnen das Leben leichter zu machen. Er wusste, wie man gradlinige Anweisungen unterwanderte, die ungereimten Vorschriften, die auf irgendeiner unbestimmten Stufe der Verwaltung erlassen wurden, und er durchkreuzte die Pläne derer, die angenommen hatten, dass diese eingesperrten Chinesen sich wie alle anderen auch mit ihrem Nichtstun, mit dem für sie vorgesehenen Raum zufriedengeben würden. Tchang hatte heimlich Elemente der Unruhe in diesen Bereich geschmuggelt, in dem er lediglich die Rolle eines Gefängniswärters hätte spielen können, wenn er gewollt hätte, Elemente, die eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Leben aufwiesen. Ohne eine Gegenleistung zu erwarten, hatte er zunächst zugelassen, dass sie sich seiner bedienten. Schon nach kurzer Zeit war er als Vermittler in Erscheinung getreten, als derjenige, den man in einer verfahrenen Situation um Rat fragte. Er war in diese pragmatische Rolle hineingeschlüpft und hatte sich rückhaltlos in den Dienst

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