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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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dieser Aufgabe gestellt. Dann hatte er gewartet, bis sich nach und nach alle möglichen Formen von Vertrauen einstellten. Fiebriges Vertrauen, totales Vertrauen, vorsichtiges Vertrauen und alle Nuancen dazwischen. Er hatte sich mit ihren Rhythmen vertraut gemacht. Er hatte komplizierte Gleichungen gelöst, um zugleich im Leben von Tossicia und im Leben der Chinesen zu sein, das unverankert darin umhertrieb. Und als die Tage vergingen, wurde er zu diesem Anker. Er hatte immer ein chinesisch-italienisches Wörterbuch bei sich, ein mittelgroßes, grünes Buch, ein Gegenstand für Gelehrte, der in jenen Zeiten natürlich einigen Seltenheitswert besaß, und dieses Buch hatte nach und nach auf ihn abgefärbt. Durch den Krieg war er halb Mensch, halb Buch geworden und verharrte zusammengekauert über seiner unermüdlichen Menschlichkeit. Und das war sein Schlüssel. Er hatte sich, als er in diese eingezäunten Leben eintrat, wie ein Schwamm dort hineingesetzt, und durch seine Worte und Gesten, manchmal sogar durch die schlichte Intensität seines Atems schenkte er der kleinen Gemeinde Halt, einen Zugang zur Wirklichkeit, wie ein kleiner Hügel, den jeder erklimmen konnte, um über das ihnen aufgezwungene heimtückische Elend hinwegzublicken. Natürlich wurde er unter ihnen zu einer Art Vertrauensperson, aber zugleich blieb er, was ihm sehr missfiel, das, was er eigentlich hatte sein sollen, jener Puffer zwischen ihnen und den Anderen. Aber Tchang besaß die Fähigkeit, etwas Anderes zu sein. Dieser kleine Mann, halb Mensch, halb Buch, mit seinem chinesisch-italienischen Wörterbuch, brachte das Draußen und dessen Pulsschläge zu ihnen. Er hatte seine Destillierkolben, und er extrahierte aus der Außenwelt die Reibung, die Zusammenstöße, die Unfälle und stellte daraus ein Destillat her, um ihnen anschließend die Essenz daraus zu überreichen und zu erleben, wie sie sich von der Finsternis eines Lebens losmachten, das so glatt war, dass man darauf dem Tod entgegenschlitterte. Ihm war jedes Mittel recht, er tastete nach Unebenheiten. Manche davon fand er in seinem Glauben. Vielleicht hatte ja einmal ein Kind aus Tossicia den Kopf gereckt, um durch das Fenster im Erdgeschoss der Casa Mirti zu schauen, und Pater Tchang gesehen, wie er seiner versammelten Gemeinde in den frühen Abendstunden eine Passage aus dem Evangelium vorlas, und vielleicht hatte es angenommen, dass es sich um so etwas wie eine Bibelstunde handelte, vielleicht ein wenig exotisch, aber letztendlich nicht so anders als das, was Priester überall auf der Welt taten. Es hätte damit nicht ganz Unrecht gehabt. Aber Tchang war bewusst, dass Lesungen, die so wenig in diese Zeiten und an diesen Ort passten, zu Recht einen Beigeschmack von Heimlichtuerei hatten, er wusste, dass sie sie aufrüttelten und ihre gewohnten Sichtweisen durcheinanderbrachten, dass sie in ihnen Brüche und Ratlosigkeit hervorriefen, und darin wiederum lag der Luxus versteckt, an sich zu denken. Die Fremdheit in diesen Lesungen, die weit entfernten Orte, die längst vergangenen Zeitalter, die darin angesprochenen Werte, all das öffnete versteckte Türen. Diese Lesungen ebneten den Weg zu dem Rausch, der sich einstellt, wenn man sich von sich selbst losreißt. Sie bewirkten, dass sie vorübergehend ihrer Lähmung entkamen. Vielleicht hätten andere Lesungen einen ähnlichen Effekt erzeugt, aber die Geschichte dieser Leben hatte bestimmt, dass es ein katholischer Priester sein sollte, der sich dieser Aufgabe annahm, und dass das Mittel Lesungen aus dem Evangelium waren, und der Kreis der Zuhörer wuchs und wuchs. Er brachte die Texte auf seine Weise zum Sprechen, kommentierte sie mit ihnen gemeinsam, und diese Gespräche holten sie aus ihrem kargen Dasein als Wasserträger oder Holzfäller im angrenzenden Wald oder als Schneeschipper auf den Straßen heraus. Tchang spürte es mit jeder Faser seines Körpers, jedes Mal, wenn einer von ihnen ein Anderer wurde und wie seine Gleichgültigkeit erlosch, jedes Mal, wenn er sah, wie sich das Schweigen ganz tief in ihrem Innern veränderte. Wenn bei einem der Blick kaum merklich etwas fester und die Atmung ruhiger wurde, waren das die Anzeichen. Er hatte gelernt, diese unendlich kurzen Augenblicke wahrzunehmen, wenn eingepferchte Männer sich zusammennahmen und auf einmal wieder in der Lage waren, ganz bescheidene Pläne zu schmieden, die auf die Freiheit hindeuteten, und aus der Finsternis ihrer Tage heraustraten. Tchang spürte deutlich, dass er

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