116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
miteingerechnet die, welche sein Tagesgeschäft ausmachten, sich blicken lassen, die Gerüchteküche beruhigen, sich an das Bett eines Sterbenden begeben, ihn salben, im Schweigen der versammelten Familie, und beim Gehen denken, dass er nun eine weniger zu beruhigen hätte. Auch ein Priester hat das Recht, sich beim Verlassen eines trauernden Hauses die Hände zu reiben, weil es jetzt sechs Personen mehr gab, die keine Angst mehr vor Chinesen hatten. Tchang zählte diese seine Wege nicht mehr, wenn er jemandem die Sakramente erteilte oder schlicht beim Schlachter vorbeischaute, beim Bürgermeister, bei Ärzten, beim Maurer, und jedes Mal, bei jeder ersten Begegnung die gleiche Komödie, so tun, als bemerke man das Erstaunen bei seinem Gegenüber nicht, es entschärfen, und so nach und nach mit der Landschaft verschmelzen, dafür sorgen, dass der chinesische Mensch in den Abruzzen zur Normalität wurde. Dann waren da die zig Besuche im Bezirk, um jeder möglichen Blockierung vorzubeugen, denn die Wege nach San Gabriele und zurück genügten nicht: Er musste die Militärs bearbeiten, die faschistische Zelle, diese oder jene wichtige Persönlichkeit der Gegend, der es gefiel, sich bitten zu lassen, und auch dort, überzeugen, Minen beseitigen, auf Wegen und Straßen, und immer wenn Tchang einen Ort verließ, sah er vor seinem inneren Auge dieses Netz von Strecken, das sich auf die Erde der Abruzzen herabsenkte und deren Trägheit umpflügte. Wenn man die gelegentlichen Ausflüge nach Teramo außer Acht ließ, steckte der Bereich, in dem er sich bei diesen Gängen bewegte, eine Zone ab, ein Territorium, den chinesischen Teil Italiens, eingegrenzt durch Tchangs Schritte, der sich, auf seine Art und in seiner Funktion, auf Bergkämmen bewegte, zwischen denen Abgründe lagen. Im Gegensatz zu den Gefangenen konnte nur er dieses Gebiet richtig erkunden. Sie dagegen blieben und lebten, auf Befehl und aus Notwendigkeit, in der nahen Umgebung von Tossicia, ihrem sichtbaren Horizont, aber die Existenz dieser weiter ausgedehnten Zone und ihrer Begrenzungen hatte sich stumm in ihr Bewusstsein eingeprägt. Tossicia, Isola und die wenigen Dörfer, das war ihre Insel, durch eine unsichtbare Grenze vom Rest des Landes abgetrennt, eine Erdspalte, als ob die Zone dort in ihrer gesamten Dicke hingelegt worden wäre, den Zeiten ausgeliefert, aber bereits zugeschnitten, bereit, sich abzulösen, eingerichtet, damit sie abgetrennt werden oder verdunsten konnte, zwar dort eingelassen, aber herauslösbar. Diese Spalte war von Menschen gemacht worden, der Ort gehörte den Seismograph gewordenen Menschen, die zu etwas Tellurischem geworden waren, die seit Generationen fest mit einer Erde verbunden waren, die sich bewegte, einem abgespaltenen Ort. Dann wurden etwa hundert Gefangene aufgrund ihrer Herkunft zusammengetrieben, und schon wurde der Zwischenraum sichtbar, die Grenze, die unmerklich schwebende Insel dünstete einen weißen Nebel aus, der sich unterirdisch überall in diesem Riss verteilte, in die verschwommenen Träume der Bewohner eindrang, kein stechender Schmerz, kein gellender Schrei, nein, eine langsam fließende Lava kurz vorm Erkalten, eine teigige Masse, die sich ausbreitet und das Draußen vom Drinnen trennt. Das war das mentale Universum der Gefangenen, die mit Baken abgesteckte Banalität ihres Dortseins, doch die Phantasien darüber befanden sich jenseits davon. Eine von der Welt getrennte Insel und Mauern, die aus dem Erdinneren hochfahren, Mauern aus nichts, wenn nicht aus vielmaligem Verzicht, unsichtbare, monströse Mauern, Mauern der Wahrheit, des kontrollierten Terrors und der Gewalt, falls man sie überwand. Der Krieg, den der Faschismus führte, das waren diese Mauern ohne Steine, diese aus Einfriedungen bestehende Welt, dieses wesentliche Abschnüren, von dem die Lager nur eine Form der Ausprägung, eine Deklination waren. Ein Labyrinth, das manchmal um die Menschen herum und manchmal in ihnen war, ein Mauerwerk aus Menschen, Mauerstücke, die um andere Menschen herum waren. Das waren solide Mauern, über die man nicht hinüberkletterte. Man wartete auf das Erdbeben. Man träumte von Geröll.
Dann war der August da. Der Monat, der Tag und die Stunde der Taufe waren gekommen. Staub wölkte in den schrägen Lichtstrahlen, die durch die bunten Fenster der Kirche San Gabriele hereinfielen und grelle Farben auf den Boden legten, im ganzen steinernen Gewölbe und auf den darin schwebenden Teilchen verteilten.
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