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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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Tossicia überhaupt weiterhin anderen Menschen angetan wurde. Der eine oder andere würde sich fragen, welche seltsame Wendung, welche erlittene Perversion der Grund dafür war, dass ihnen ein Stückchen ihrer Würde zurückgegeben wurde, indem sie in ein anderes Lager umziehen konnten, nur wenige Kilometer entfernt. Und hatte diese Würde etwas mit dem Meer aus Ginster zu tun, das sich vor den Augen der Bewohner von Isola ausbreitete, in der schweigenden Riesigkeit des Sasso, der majestätisch dessen Horizont beherrschte? Was war es, was für ein Material oder eine Substanz, die aus Isola einen Ort machte, der nach außen hin erträglich erschien, auch wenn dessen diffuse, sich ausbreitende Schwärze einen nach und nach übermannte? Das Wissen um die Zigeuner in Tossicia würde für die Chinesen zu einer Aufforderung werden, San Gabriele zu akzeptieren. Diese Abstufung enthielt die diskrete, aber deutliche Erinnerung daran, dass das Schlimmste nicht oder nicht mehr ihr Alltag war. Dass man ihnen ein vergleichsweise mildes Schicksal zuteil werden ließ, indem man sie hier allmählich verdaute. Der Faschismus teilte säuberlich alle möglichen Deklinationen der Demütigung aus. Was er nicht vorhergesehen hatte, war, dass aus diesem Trümmerfeld ein verschwommenes Gefühl von Solidarität würde aufsteigen können. Eigentlich hätte in Tossicia jede Empfindung abgetötet werden müssen, stattdessen hatte sich dort eine Tür geöffnet für die komplexen Wege während der nächtlichen Stunden, für die Dialoge jenseits der Worte, für die erwachenden Formen von Brüderlichkeit, weil die Gespenster der Zigeuner in chinesischen Träumen Einzug gehalten und vielleicht dazu beigetragen hatten, dass ihre Nächte nicht ganz so finster waren.

1943
    Es war der Zeitpunkt, als alles zum Ende kam. Eine kleine Gruppe Chinesen hielt sich noch auf dem Vorplatz des Klosters auf, drei von ihnen waren aus der Herberge zurückgekehrt. Die Hitze ließ nach, und so etwas wie Leichtigkeit stellte sich ein. Langsam löste sich einer von ihnen aus der Gruppe heraus, überließ die anderen ihren Gesprächen, wandte den Blick von ihnen ab, ließ ihn abschweifen und entfernte sich allmählich. Er schlug den ansteigenden Weg ein, der zu dem Plateau hinaufführte, das hinter dem Dorf lag. Die Erde schickte hin und wieder einen Schwall ihres Geruchs in den erfrischenden Wind, der sich oft um diese Zeit erhob. Die Brise trug alle Gerüche mit sich fort, und ebenso die Geräusche und nach und nach auch das Gemurmel, das von den Häusern her kam, die immer weiter in den Hintergrund rückten. Es war nicht seine Angewohnheit, allein spazieren zu gehen. Normalerweise verschmolz er mit der Gruppe. Doch an jenem späten Augustnachmittag hatte er den Drang verspürt, diese nahe Fläche, die ein paar Häuser nur unzulänglich verdeckten, wo er aber noch nie hingegangen war, zu Fuß zu erkunden. Seinen Genossen war sein Weggehen sehr wohl aufgefallen, aber es hatte niemanden beunruhigt. Seit über einem Jahr waren sie nun an diesem Ort, und es hatte keine Flucht gegeben, kein Ausbruch war zu verzeichnen gewesen, die Toleranz der Wächter war gewachsen. Ohne darüber nachzudenken, konnte man sich nicht vorstellen, dass die Chinesen zu etwas anderem als Warten fähig waren, man traute ihnen keine komplexen Absichten zu, so dass sich ohne weiteres einer von ihnen, ohne dass es eine besondere Erklärung dafür geben musste, auf das menschenleere Plateau begeben konnte. Er würde schon wiederkommen. Nicht lange, und er war allein.
     
    Mindestens einmal pro Woche legte sie den Weg zwischen ihrem einsamen Haus in der Nähe des Klosters und dem Dorf zurück. Sie hatte einen Namen, sie stammte von hier, dennoch würde sich später niemand an sie erinnern. Sie kam, um auf den Markt zu gehen und ihre greise Mutter zu besuchen, die in einem alten Haus in einer Gasse nahe der kleinen Kirche San Giuseppe ihr Dasein fristete. Sie waren das Überbleibsel einer Familie. Der Vater hatte auf den Feldern gearbeitet und war kurz nach seiner Rückkehr aus dem vorherigen Krieg gestorben. Der Bruder war fortgegangen, um reich zu werden. Er hatte ein Schiff bestiegen und vor langer Zeit aufgehört zu schreiben. Jetzt waren nur noch diese beiden Frauen übrig, sie beide allein, und das Licht war schummrig. In der Stille des Nachmittags schlug sie ein paar Stunden lang die Zeit tot, während derer sie ihrer Mutter Gesellschaft leistete, hinter ihr umherging, aufräumte, was ihr

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