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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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hatte sie vereinheitlichen und unter Zwang stellen wollen, stattdessen erschufen sie Spaltungen, erschufen Geschichte und testeten eine innere Freiheit aus, die zwar gewaltsam war, aber einen Zugang zum Leben darstellte. Besser, von diesen Spannungen wusste zunächst niemand außer ihnen. Sie interessierten sonst, in der Umgebung, im Dorf, im Tal, niemanden. Diese Wut, der Gärstoff einer möglichen Geschichte, war zu allererst ihr kostbarer Schatz gewesen. Doch das blieb nicht für immer so.
    Unter ihnen gab es eine kleine Gruppe von ungefähr zwölf, die nicht damit einverstanden waren, angesichts von etwas untätig zu bleiben, das in ihren Augen eine komplette Maskerade war, und die Tchang dafür verantwortlich machten, der die Bekehrung seiner Genossen in seiner Naivität unverzüglich und vollkommen unverstellt angegangen war, als gäbe es für ihre Existenz nichts Wichtigeres, als funktionierten die Wasserleitungen, als waberten nicht übelriechende Dünste aus der angrenzenden Kloake durch den gemeinsamen Waschraum, als hätte nicht jeder von ihnen die unerträgliche Kälte des vorangegangenen Winters gespürt und festgestellt, dass nichts, rein gar nichts unternommen worden war, um dem Abhilfe zu schaffen. Sie gehörten zu denen, die ihm gegenüber sofort Misstrauen empfunden hatten, und alles, was er für sie tat, hatte dieses Gefühl nur noch verstärkt. Sie wussten, dass Tchang nur ein unwichtiger Spielstein war, doch durch seine zentrale Stellung in dem Gefüge, das ihnen ein neues Leben erfand, indem es das vorherige in Fetzen riss, war er in ihren Augen weit mehr als ein Symbol. Und im September zerbarst das schöne Märchen. Eines Abends bestimmten die zwölf drei unter ihnen dazu, sich der ihnen aufgezwungenen Geschichte entgegenzustellen und die Formen der Wut zum Äußersten zu treiben. Es war ein verstohlener Moment, in dem diese Männer, die nicht zu langen Diskussionen neigten, sich versammelten, sich direkt in die Augen blickten und in einem sparsamen Wortwechsel übereinkamen, dass, wenn sie den Lauf der Dinge schon nicht ändern konnten, nichts ihnen verbot, in Tossicias Chronik einen Bruch einzuschreiben. Also nahmen diese Männer eine Portion der Gewalt der Welt, die die kühle Luft der Abenddämmerung durchtränkte und schleuderten sie auf Tchang. Als er den ihm zur Verfügung stehenden Raum betreten wollte, am Ende des Flurs, in dem die Chinesen sich drängten, stürzte sich das Halbdunkel, das ihre Züge trug, auf ihn. Nach wenigen Worten, Beschimpfungen, denen er zu widersprechen versuchte, bestand die Botschaft im Wesentlichen zunächst aus ein paar Ohrfeigen, dann aus dem Abdruck ihrer Fäuste. Sie stießen ihn zu Boden. Als er auf der Erde lag, sah Tchang sehr wohl, dass er nicht der Einzige war, der taumelte, und war davon nicht sonderlich überrascht. Als er einmal begriffen hatte, dass Worte hier nichts ausrichten konnten, dass es der Sprache, die ihr geheimer Panzer gegen die Kriegssprache war, nicht gelingen würde, die Spannung zu mindern, sah er undeutlich das Ende dieser Konfrontation vor sich. Während zwei nicht von ihm abließen und ihren Schlägen freien Lauf ließen, lauerte der Dritte im Hintergrund. Tchang erinnerte sich an die angespannten zwei Monate vor und nach der Taufe, die ausweichenden Äußerungen, die Probleme, die sich nicht mehr wie zuvor regeln ließen. Er hatte keine Zeit, sich zu wundern oder in diesem Moment eher über die letzten Wochen nachzudenken als über den Schmerz. Diese Gedanken schienen sich aus den Schlägen selbst herauszulösen, als ob sie deswegen gekommen wären, als ob er sie ihnen geben würde, als ob sie zwischen ihnen explodierten, damit alle hier, die drei und er, wenn sie sie schon nicht abwenden konnten, sie wenigstens in der Aggression vereint sehen und die Gewalt miteinander teilen und leben konnten. Verscharrter Groll und präsenter Schmerz, das war ihr neuer Code. Ihre neue Verbindung, die ihr baldiges Auseinanderbrechen schon in sich trug.
    Durch die ungewöhnlichen Geräusche alarmiert, kamen einige Internierte aus ihrem Schlafsaal und sahen, was für ein Desaster sich abspielte. Der Aufpasser konnte nicht viel ausrichten, es war zu spät, die Hinzukommenden stürzten sich auf sie, riefen weitere Helfer herbei und hatten sie rasch bezwungen. Sie halfen Tchang aufzustehen, und obwohl einige sofort Hass überkam, gab es genug andere, die sie davon überzeugten, dass jeder weitere Schlag, egal von wem, die Situation nur

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