116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
verschlimmern würde. Alle ahnten in diesem Moment, dass durch diesen Zwischenfall etwas zerbrochen war. Am nächsten Morgen ließen sich die Ereignisse nicht verschweigen. Zumindest gab es ein paar, die beschlossen, es nicht zu tun; sie sorgten dafür, dass die wilden Tiere draußen von der Sache Kenntnis erhielten. Der Fall war schnell geregelt. In dem Bemühen, kein Aufsehen zu erregen, äußerte sich die explizite Gewalt des kriegsführenden Staates in dem kleinen, abgeschiedenen Dorf Tossicia unverzüglich. Sie zeigte sich in Form einer örtlichen Miliz, die sehr geschickt darin war, von der Sache Wind zu kriegen, und ebenso geschickt darin, die Täter und ihre neun Komplizen ausfindig zu machen. Spektakuläre Brutalität wurde vermieden. Die zwölf wurden identifiziert und unter Arrest gestellt. Am 18 . September wurden sie aus dem Lager herausgeholt und woanders hingebracht. Dieses unbestimmte Woanders war vernichtend. Es zeigte ihnen, dass die Gruppe jederzeit zerschlagen werden konnte. Sie alle nahmen diese Neuordnung der Gruppe und das Willkürliche daran hin, aber die Verunsicherung, die aus dem Abtransport der zwölf resultierte, die Zerbrechlichkeit dieser Gruppe, die versuchte weiterzuleben, indem sie sich ihr eigenes, abgekapseltes Universum schuf, diese Zerbrechlichkeit ließ sie erstarren. Der September war da, und in ihren Adern war Winter. Es gab weitere Taufen.
Als die Chinesen wegen totaler Überfüllung des Lagers nach Isola gebracht wurden, nahmen Zigeuner ihren Platz ein. Es wurde weiterhin stur daran festgehalten, in Tossicia Menschen unterzubringen, trotz der Berichte, die den Ort als einen Albtraum auf Erden beschrieben. Sie fanden immer wieder eine neue Gruppe Menschen, für die die Verachtung noch größer war und die man dort einsperrte. Im Übrigen ergaben die Übergänge auch einen Sinn. Die Ankunft der Chinesen in Tossicia war über einen längeren Zeitraum hinweg und nach und nach erfolgt, bis ihnen selbst, den anderen und der Dorfbevölkerung schließlich klar geworden war, dass ihre zahlenmäßige Überlegenheit ein Ziel gewesen war, das man nun erreicht hatte. Während dieser Prozess im Gange war, hatte jeder irgendwann völlige Verständnislosigkeit erlebt. Die deutschen Juden, die seit 1940 dort waren, hatten sich mit der Ankunft von Chinesen konfrontiert gesehen, was das schreckliche Schwindelgefühl angesichts dessen, was hier ausgeheckt wurde, für sie nur noch deutlicher hatte werden lassen. Niemand hatte einen triftigen Grund, den anderen zu hassen, jedem war klar, dass das Problem nicht von diesem anderen ausging, der auf einmal da war, sondern von weiter oben. Dennoch konnte niemand dieses erzwungene Zusammenleben als etwas anderes akzeptieren als ein Auf-der-Stelle-Treten. Dies war einer der zahlreichen schwarzen Strahlen des Krieges gewesen, dass er das Misstrauen dem anderen gegenüber aufleben ließ, und das ausgerechnet, als jeder spürte, dass dieses Misstrauen der Motor eben jener entfesselten Hysterie war, die sich gegen ihn richtete. So war das schrittweise Ersetzen der Juden durch Chinesen in Tossicia vonstatten gegangen, Erstere wurden nach Civitella gebracht, weil Letztere immer mehr wurden.
Das Ersetzen, das 1942 stattfand, war von gänzlich anderer Natur. Nachdem sie alle auf einen Schlag nach Isola gebracht worden waren, hatten die Chinesen nur durch Gerüchte erfahren, dass Tossicia nicht geschlossen worden war, sondern dass dort, zwei Monate nach ihrer Abreise, eine Gruppe Zigeuner eingetroffen war. Diesmal hatte es keine Übergänge gegeben, die Gruppen hatten sich nicht gegenseitig mit Blicken taxiert: ein abruptes Ersetzen. Die Zigeuner waren im System der Konzentrationslager also diejenigen, die nach allen anderen kamen. Diejenigen, die man nicht mit anderen zusammenbrachte. Zumindest in Tossicia, zumindest im Hirn des örtlichen Verantwortlichen dieser Verwaltung. Es handelte sich um ein methodisches Verbrechen, stufenweise organisiert. Ohne dass auch nur ein Wort darüber verloren worden wäre, offenbarte das, was in Tossicia geschah, eine Leiter der Herabsetzung, deren letzte Sprosse die Zigeuner waren.
Und dadurch wurden aus ihnen die Gespenster, die durch die Träume der Gefangenen in Isola geisterten. Einige von ihnen würden sich noch in ihrer eigenen unermesslichen Verlassenheit fragen, ob es überhaupt möglich war, dass durch ihre Nachfolger da oben in der mörderischen Baufälligkeit von Tossicia noch Leben strömte, und warum
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