1171 - Emilys Engelszauber
bekam die Zuschauer tatsächlich unter Kontrolle. Allmählich ebbte das Klatschen ab, und auch die letzten Gespräche wurden eingestellt.
Er schaltete ein kleines Mikrofon ein, damit seine Stimme auch überall zu hören war. »Ladys and Gentlemen!«, rief er in das Zelt hinein.
»Wenn Sie gedacht haben, dass Sie den Höhepunkt meiner Darbietung hinter sich haben, dann sind Sie einem Irrtum erlegen. In den folgenden Minuten werden Sie erleben, wozu ein Mann namens Harold Winter tatsächlich fähig ist.«
Er legte eine Pause ein, um die Spannung zu erhöhen. Die Besucher hielten sich an die Regeln. Es war keiner da, der die eingetretene Ruhe störte.
Ein Höhepunkt stand uns bevor. Wenn Emily noch eingreifen und sich rächen wollte, dann musste das sehr bald passieren. Vorausgesetzt, sie verfolgte den Plan tatsächlich.
Glenda stieß mich an. Ich drehte den Kopf nach links und hörte sie flüstern: »Da!«
Ich hatte das Gefühl, von einem Tritt erwischt worden zu sein. Kalt rann es mir den Nacken hinab, denn oben zwischen den Zuschauern bewegte sich etwas Helles.
Es sah aus wie ein Licht, aber es war kein Licht. Es flackerte nicht, es sah einfach nur weiß aus, und es blieb auch nicht an einer Stelle stehen, sondern bewegte sich nach unten. Es gab Gänge zwischen den Zuschauerreihen. Einen davon hatte die Gestalt genommen.
Hätte der Gang in unserer Nähe vorbeigeführt, dann hätte ich gewusst, was getan werden musste. Aber er lag zu weit von uns entfernt. Es würde zu viel Zeit kosten, um ihn zu erreichen.
So warteten wir ab…
***
Noch stand nicht hundertprozentig fest, ob wir tatsächlich Emily White entdeckt hatten. Es konnte auch eine Lampe sein, die irgendein Helfer vor sich hertrug.
Nein, das war es nicht.
Schon nach wenigen Sekunden sahen wir den menschlichen Umriss.
Es war Emily. Wenn sie so weiterging und nichts würde sie davon abhalten, musste sie die Manege erreichen und damit auch den Käfig.
Und sie ging weiter. Schritt für Schritt. Stufe für Stufe. Sie ließ, sich nicht stoppen. Ihre Bewegungen waren locker und leicht. Glenda konnte ihre Aufregung nicht länger zurückhalten.
»Verdammt, John, wir müssen was tun!«, flüsterte sie.
»Willst du ihr den Weg abschneiden?«
»Nein, aber…«
»Lass sie unten sein.«
Alle Zuschauer warteten auf den angekündigten Höhepunkt, der noch nicht kam. Es passierte überhaupt nichts. Weder Harold Winter noch die Panther bewegten sich.
Aber Harold hatte gesehen, was sich auf den Rängen abspielte. Es war so dunkel, da fiel die helle Gestalt auf. Und sie schwächte sich ab, je näher sie in den ersten Bereich des Lichtkreises geriet. Da verwandelte sie sich wieder zurück in einen normalen Menschen.
»John, er hat sie erkannt!«
Der Meinung war ich auch.
Emily ging weiter. Nichts war zu hören. Inzwischen war sie auch den Zuschauern aufgefallen, die sie beim Gehen anschauten, aber nichts unternahmen. Sicherlich waren sie der Meinung, dass dieser Auftritt zum großen Höhepunkt der Nummer gehörte.
»Und was tun wir?«, flüsterte Glenda.
»Noch nichts.«
»Wir könnten versuchen, in den Käfig zu kommen. Auf mich hört Emily.«
»Vergiss es. Ich glaube nicht, dass die Raubkatzen zu deinen Freunden zählen.«
»Aber etwas müssen wir tun.«
»Richtig.«
Glenda war rot angelaufen. »Verdammt, John, und was müssen wir unternehmen?«
»Ich werde versuchen, sie vor dem Käfig zu stoppen. Das ist die einzige Chance.«
Sie würde Unheil verbreiten. Sie würde dem Begriff Engel nicht gerecht werden. Das wusste auch Harold Winter, der unbeweglich in seinem Käfig stand und in dieser Bewegungslosigkeit seinen eigenen Raubkatzen glich.
Emily White war auf der gleichen Seite geblieben. Sie hatte nur noch wenige Stufen zu gehen, dann konnte sie auf den Rand der Manege steigen.
Bevor dies geschah, setzte ich mich in Bewegung. Es war mir egal, was die Leute dachten. Ich lief schneller als Emily und rief laut ihren Namen. Da schrak sie zusammen, blieb für einen Moment stehen, lachte und gab mir danach eine Antwort, die mir gar nicht gefiel. »Auch du kannst mich nicht stoppen, Mann mit dem Kreuz…«
ENDE des ersten Teils
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