1190 - Geisterrache
Du solltest dich freuen, denn ich bin auch dein zu einem gewissen Teil. Verstehst du?«
»Nein, nein. Das will ich nicht verstehen. Du sollst verschwinden. Ich will dich nicht.«
»Hast du mich nicht auch gewollt?« Ihre Stimme war und blieb neutral.
»Nicht mehr.«
»Das ist dein Pech. Jetzt bin ich da. Du hast die Geister der Rache geweckt. Warte es ab…«
Er wollte etwas sagen, musste aber zuvor Luft holen. Danach war es dann zu spät, denn er hörte noch ein leises Lachen und sah, wie sich der Körper zur Seite bewegte, ohne dass sie dabei das angezogene linke Bein ausstreckte. Sie hätte vom Stuhl fallen müssen, und sie kippte auch schon, aber sie verschwand während des Falls.
Der Maler traute seinen Augen nicht, denn Gunhilla hatte sich vor seinen Augen aufgelöst.
Der Stuhl war leer.
Und er blieb auch in der folgenden Minute leer, denn Gunhilla kehrte nicht mehr zurück, um darauf Platz zu nehmen. So stand Ethan Dunn weiterhin wie vom Donner gerührt und fragte sich, ob er alles nur geträumt hatte.
Irgendwann war er wieder in der Lage, sich zu bewegen. Er schaute vor seine Füße und entdeckte auf dem Holzboden die braune Lache. Die Kaffeetasse war umgekippt, ohne dass es ihm aufgefallen war.
Beide Hände legte er rechts und links gegen den Kopf. Er verzog schmerzlich das Gesicht und fragte sich mit leiser Stimme, ob er verrückt war oder nicht.
»Verdammt noch mal!«, brüllte er schließlich los. »Ich bin doch nicht irre! Ich bin nicht reif für die Insel. Ich will nicht in die Zelle…«
Es hielt ihn nicht mehr auf der Stelle. Er rannte auf eine Wand zu und hämmerte mit den Fäusten dagegen, bis seine Hände zu schmerzen begannen.
Irgendwann hörte er auf. Da fand er sich auf den Knien wieder. Sein Gesicht war nass von Tränen geworden. Aus dem offenen Mund rann der Speichel. Er strich durch sein Gesicht, schüttelte den Kopf und kam wieder auf die Füße.
Leicht schwankend blieb er stehen. Der Brustkorb pumpte auf und ab. Er spürte Stiche in der Nähe seines Herzens, und wie ein Film lief die letzte Begegnung mit dem Unheimlichen wieder vor seinem geistigen Auge ab.
Er drehte sich wütend um. Seine Arme schlenkerten dabei. Er traf auch die Wand und spürte den Schmerz in seinen Fingern. Was er zu sehen hoffte, das sah er.
Ein Podest, auf dem nur ein Stuhl stand.
Er ging nicht hin. Das Podest war für ihn zu einer Insel des Bösen geworden. Der unheimliche Fremdkörper in seinem Atelier, den er am liebsten entfernt hätte.
Was geschehen war, das konnte er nicht ignorieren. Er hatte es sich nicht eingebildet. Er musste sich den Tatsachen stellen, und er würde dies auch weiterhin tun.
Aber nicht allein.
Egal, was die anderen dachten. Egal, was sie abgesprochen hatten, dies hier war ein Notfall. Da musste man anders handeln als in der Normalität.
Sein Handy lag auf einem kleinen Tisch neben einigen unterschiedlich großen und scharfen Messern, mit denen er sich normalerweise die Leinwand zurechtschnitt.
Dons Nummer fiel ihm als erste ein.
Mit zitternden Fingern tippte er die Zahlenkombination ein und wartete voller Ungeduld.
Es meldete sich auch jemand. Es war jedoch nicht sein Freund Don, sondern dessen Frau.
»Ja, bitte…«
Dass die Stimme sehr schwach geklungen hatte, nahm er nur am Rande wahr. »Hier ist Ethan.«
»Und…?«
»Ich möchte gern Don sprechen.«
»Don?«
Der Maler knirschte mit den Zähnen. »Ja, Don, haben Sie nicht gehört?« Er ging unruhig durch sein Atelier, den Blick dabei auf das Podest gerichtet.
»Aber Sie können Don nicht sprechen, Mister.«
»Warum das denn nicht?«
Die Frau schwieg.
»Ist er nicht da?«
»Richtig.«
»Scheiße!«, flüsterte er in den Hörer. »Kann ich ihn denn erreichen, Mrs. Ambrose?«
»Ich denke nicht.«
»Wann kommt er zurück?«
»Das ist unbestimmt.«
In diesem Moment entschloss sich der Maler, über seinen eigenen Schatten zu springen. Er verriet damit auch die Statuen des Clubs, aber das war ihm egal.
»Wenn Sie Don erreichen, Mrs. Ambrose, dann sagen Sie ihm, dass er so schnell wie möglich zu Ethan Dunn kommen soll. Ich werde mich wohl auch noch mit Hank Glaser und Gino Cobani in Verbindung setzen, aber sagen Sie Don unbedingt Bescheid.«
»Ich weiß ja nicht, was so wichtig ist, Mr. Dunn, aber ich werde meinem Mann keinen Bescheid mehr geben können.«
Über Dunns Rücken rann ein eisiger Schauer. »Warum denn nicht?«, hauchte er in seine Handy.
»Weil mein Mann sich umgebracht hat, Mr. Dunn!«
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