1193 - Das Templerkind
Ausgang.«
Ich dachte an die vier Halbwüchsigen und grinste in mich hinein. Ich behielt mein Wissen allerdings für mich und ging bis zum Fenster vor, durch das ich schaute.
Draußen sah es auch nicht besser aus. Der Tag war eingepackt in das neblige Grau, dem sich die kahlen Bäume angeglichen hatten. Ich sah auch die Dächer von Cauville, den Rauch darüber, aber keine Spur von Clarissa.
Und doch war sie in der Nähe.
Es war ein plötzliches Gefühl, das mich durchströmte und seltsamerweise seinen Mittelpunkt dort besaß, wo mein Kreuz hing. Durch meinen Körper rieselte eine Wärme, die mich irgendwie beruhigte, und dann hörte ich die Stimme.
»Ihr braucht mich nicht zu suchen!«
Auch die Ferrant hatte die Worte gehört. Da ich mich drehte, sah ich sie. Die Frau war irritiert. Sie bewegte ihren Kopf und schaute zu den verschiedenen Seiten hin, doch nur ich spürte die Botschaft, die aus der Höhe kam.
Ich blickte hoch.
Die Decke war grau. Ebenso wie alles andere in dieser Umgebung. Aber die Gestalt im Winkel zwischen Decke und Wand war für mich nicht zu übersehen.
Genau dort hockte Clarissa!
***
Wenn ich mit allem gerechnet hatte, damit nicht. Sie saß zusammengekauert, die Beine angezogen, den Kopf nach vorn gedrückt und schaute in die Tiefe.
Es gab keine Stütze und auch keinen Vorsprung, der ihr den nötigen Halt gegeben hätte. Sie saß dort stumm und wie eine Figur aus Stein, in der kein Leben steckte.
Innerhalb weniger Sekunden hatte ich dies alles erfasst. Ich riss mich zusammen und ließ mir meine Überraschung nicht anmerken, aber die Heimleiterin reagierte völlig anders.
Sie riss den Mund auf. Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Direkt danach wurde sie totenbleich, und es trat das ein, was ich bei ihr nicht für möglich gehalten hätte.
Madame Ferrant verdrehte die Augen. Ihre Knie gaben nach und sie brach genau dort zusammen, wo sie stand. Ich fing sie gerade noch ab, sonst wäre sie auf dem harten Boden aufgeschlagen.
Die Frau war leicht. Sie lag in meinen Armen wie ein mit Haut überzogenes Knochengestell und atmete so gut wie nicht. Das Gesicht war noch bleicher geworden.
Der beste Platz für die Ohnmächtige war das Bett, auf das ich sie auch seitlich legte. Nach dem Bücken richtete ich mich auf und drehte mich herum.
Clarissa Mignon hatte ihren Platz unter der Decke noch nicht verlassen. Sie beobachtete mich nur, und ich tat, was ich tun musste. Ich ging zur Tür, schloss sie, denn ich wollte nicht, dass irgendwelche Zeugen uns sahen.
Vor der Tür blieb ich stehen, um schräg in die Höhe zu schauen. Clarissa hatte den Kopf nicht gedreht, sie schaute mich nach wie vor an, und ich glaubte auch, sie lächeln zu sehen.
»Wir sind jetzt allein«, sagte ich. »Wenn du willst, kannst du von dort oben herunterkommen.«
»Ja, das möchte ich.«
Ich hatte vorgehabt, ihr zu helfen. Es war nicht nötig. Sie streckte sich, und ich bekam dabei große Augen, als ich sah, wie sie sich bewegte.
Das passierte nicht hastig oder übereilt, nicht mal normal, sondern mit den genau abgezirkelten Bewegungen eines Menschen, der Herr über seinen Körper ist. Bei Artisten sieht man hin und wieder diese gekonnte Langsamkeit.
Mit den Armen geschah das Gleiche wie mit den Beinen. Dabei blieb sie konzentriert, und dann sprang sie nach unten.
Nein, es war kein normales Springen, sondern mehr ein sanftes Gleiten, als wäre ihr Körper mit einem Fallschirm verbunden. Da konnte ich nur staunen.
Wenig später berührten die Füße den Boden. Sie machte einen Schritt und stand vor mir.
Um mich anschauen zu können, musste sie den Kopf etwas in den Nacken legen. Sie lächelte mich an und zeigte nicht den geringsten Anflug von Scheu.
Clarissa trug eine weiße Bluse und ein ärmelloses Westenkleid darüber.
Die Farbe Rot stach vom flachen Weiß der Bluse ab. Aber noch eine Farbe gab es.
Clarissa Mignon hatte wunderschönes blondes Haar. In der Farbe aussehend wie reifer Weizen, fiel es zu beiden Seiten des Kopfes bis auf die Schulterbögen und bildete dabei den Rahmen zu einem Mädchengesicht, dessen Züge fein geschnitten waren.
Eine hohe Stirn, der weiche Mund, Wangen, nicht zu voll und auch nicht zu hager, eine kleine Stupsnase und ein fein geschwungener Mund, der so wunderbar lächeln konnte wie er es jetzt tat.
Sie schaute mich ohne jede Scheu an, und ich blickte in ihre hellblauen Augen, die mich regelrecht anstrahlten, als wollten sie mir eine besondere Botschaft übermitteln.
Sie
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