1193 - Das Templerkind
reichte mir ihre Hand. »Ich bin Clarissa Mignon. Und Sie sind gekommen, um mich wegzubringen.«
»Das stimmt, junge Dame. Aber du kannst ruhig John zu mir sagen und mich duzen. Mit vollem Namen heiße ich John Sinclair.«
»Ja, das sagte man mir auch.«
»Madame?«
Sie nickte.
»Und was hat sie dir noch gesagt?«
Clarissa zuckte mit den Schultern. »Nicht viel, und ich habe auch nicht gefragt. Ich stelle nie viele Fragen. Ich weiß nur, dass ich hier wegkommen soll.«
»Ja, meine Kleine, und ich werde dich begleiten.«
Sie schenkte mir volles Vertrauen, das sah ich in ihren Augen. »Ist es eine weite Reise?«
»Wie man es nimmt. Eine Reise zumindest in den Süden des Landes. Dort wartet jemand auf dich.«
»Kenne ich ihn?«
Ich zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Er ist ein guter Freund von mir. Er heißt Abbé Bloch.«
»Ahhh…« Ihre Augen weiteten sich. »Er ist also ein Priester. Ein frommer Mann.«
»Irgendwie schon«, sagte ich. »Jedenfalls können wir beide ihm vertrauen. Er möchte, dass du dieses Heim hier verlässt. Es ist nichts für dich, sagt er.«
»Ja, das kann sein.«
Ich schaute mich um, weil auch Clarissa keinerlei Anstalten machte, den Raum zu verlassen. »Hast du dich hier überhaupt wohl gefühlt?«, erkundigte ich mich.
Sie dachte nach. »Das kann ich nicht sagen. Ich… ich… kenne nichts anderes. Ich bin hier aufgewachsen. Ich habe hier gelebt. Meine Eltern sind tot.«
»Ach - beide?«
Sie zuckte leicht zusammen. »Ja, warum fragst du?«
»Nur so«, erwiderte ich und dachte daran, was mir der Abbé gesagt hatte. Der hatte nur von einem toten Vater gesprochen, der auf schlimme Art und Weise umgekommen sein musste. Aber Clarissa wusste es wohl besser.
»Hier leben viele im Heim, denen gesagt wird, sie hätten keine Eltern mehr, obwohl das oft nicht stimmt. Aber bei mir ist es wirklich so, John.«
»Das glaube ich dir.« Ich blickte mich so auffällig um, damit Clarissa es auch sah.
»Was ist denn los?« fragte sie.
»Ach, ich denke nur darüber nach, ob alle hier im Heim ein eigenes Zimmer habe.«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Nur du?«
Sie nickte mir ernst zu. »Ja, nur ich.«
»Dann kannst du mir auch sicherlich den Grund nennen?«
Clarissa hob die Schultern. »Das eigentlich nicht. Es ist schon komisch, und ich habe auch gefragt. Da hat mir Madame gesagt, dass jemand für mich immer Geld bezahlt.«
»Wer ist das?«
»Ich habe keine Ahnung. Madame hat sich darüber ausgeschwiegen. Sie wollte es nicht sagen.«
»Und sie war auch nicht dagegen, dass ich dich abhole und mitnehme?«
»Nein - glaube ich nicht. Gesagt hat sie das nicht.«
Das war wirklich ungewöhnlich. Clarissa verhielt sich normal. Sie war es in meinen Augen nicht.
Da brauchte ich nur an den Platz an der Decke zu denken, den sie bei unserem Eintreten eingenommen hatte. Für mich war sie ein besonderes Kind mit besonderen Fähigkeiten, die normalerweise kein Mensch besaß. Oder nur wenige außergewöhnliche.
Sie hatte gesehen, dass mein Blick hoch zur Decke geglitten war, und sagte mit leiser Stimme: »Du denkst darüber nach, wie ich es geschafft habe.«
»Ist das nicht natürlich?«
»Doch, schon«, gab sie zu. Dabei verdrehte sie die Augen und blickte in die Höhe. »Aber ich kann es eben. Ich weiß es nicht, ich bin anders als die anderen Kinder hier.«
»Schon immer?« fragte ich.
»Ja.« Sie senkte den Kopf. »Das muss wohl so gewesen sein, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann. Ich habe auch nie mit den anderen zusammengelebt und war oft allein.«
»Hat man dich hier unterrichtet?«
»Sehr sogar. Ich war auch gut. Das bin ich immer noch. Madame sprach mal von einem Phänomen. Ich muss es wohl von meinen Eltern geerbt haben, die ich aber nicht kenne.«
»Hast du denn gefragt?«
Sie ging zu einem Stuhl, setzte sich und schüttelte den Kopf. »Ab und zu mal. Aber ich habe nie so richtige Antworten erhalten. Über meine Eltern wurde immer geschwiegen.«
»Glaubst du denn, dass Madame Ferrant sie kennt?«
»Kann sein. Aber sie hat nie darüber gesprochen.«
»Das muss ich wohl so hinnehmen.« Ich deutete gegen die Decke. »Und wie war es möglich, dass du es geschafft hast, dich dort oben an der Decke zu halten?«
Auf diese Frage schien Clarissa gewartet zu haben. Zunächst blickte sie mich aus ihren klaren, aber jetzt groß gewordenen Augen an. »Ich kann es eben«, erwiderte sie nach einer Weile. »Es hat mir keine Probleme bereitet.«
»Toll. Aber wie war das
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