1195 - Der Engelskerker
streckte die Hände abwehrend vor. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Panik ab. Sie wollte Dagmar warnen, damit sie keinen Schritt mehr vorging, und heftig schüttelte sie den Kopf, sodass die langen Haare flogen.
Dagmar Hansen ließ sich nicht stören. Sie hatte schon fast die Tischkante erreicht, als Michaela in die Höhe sprang. Ohne Vorwarnung. Ein spitzer Schrei drang Dagmar Hansen entgegen. Das Gesicht war zu einer einzigen Warnung geworden, und auch die Hände zuckten vor und zurück, um zu dokumentieren, dass Dagmar keinen weiteren Schritt mehr gehen sollte.
Natürlich merkte auch Dagmar es. »Keine Angst«, flüsterte sie Michaela zu. »Ich werde dir nichts tun. Ich meine es gut mit dir. Ich habe deine Hilferufe gehört und…«
Ein bösartig klingendes Knurren unterbrach sie. Michaela hatte es nicht ausgestoßen. Es war aus dem Hintergrund erfolgt, wo die Holzwand dieses farbige Licht abgab.
Der Nebel dort wurde gesprengt. Urplötzlich waren sie da. Und Dagmar glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können. Sie wusste auch nicht, ob die fürchterlichen Gestalten mit ihren schrecklichen Mäulern echt waren oder nicht.
Riesige Rachen, mörderische Gebisse. Heißer Atem oder heiße stinkende Luft fegte über den Tisch hinweg, und gewaltige Krallen umfassten Michaela von zwei Seiten.
Sie konnte sich nicht wehren. Brutal wurde sie in die Höhe gerissen und rücklings in die Wand hineingezogen.
Ab in den Kerker!
Dagmar warf sich vor. Sie konnte nicht hinnehmen, dass die schöne Michaela vor ihren Augen geraubt wurde. Sie spürte auch den Druck des dritten Auges hinter der Stirn und hörte wieder die Schreie in ihrem Kopf.
Zwischen sie und Michaela schob sich ein grauenerregendes Etwas. Ein maskenhafter Unhold mit einem bläulich schimmernden Gesicht, in dem das gewaltige Maul auffiel. Zähne sahen aus wie Krallen, und es waren andere Krallen, die nach Dagmar griffen.
Ähnliche mussten auch den Wirt so schwer verletzt haben.
Noch jemand griff zu.
Es war Harry Stahl, der beide Hände auf die Schultern seiner Partnerin schlug. Da hatte er wirklich im letzten Augenblick reagiert, denn bevor das Monstrum zupacken konnte, zerrte er Dagmar Hansen zurück.
Sie fiel ihm in die Arme.
Die Kralle huschte dicht an ihrem Gesicht vorbei und erwischte den Tisch. Sie kratzte darüber hinweg. Gleichzeitig fauchte beiden ein heftiger Atemstoß entgegen, der von einem dichten, stinkenden Nebel begleitet wurde und ihre Gesichter traf.
Harry und Dagmar taumelten zurück. Sie stolperten beinahe über ihre eigenen Füße. Mühsam hielten sie sich auf den Beinen. Mit dem Rücken berührte Harry noch die Kante der Kasse, dann befanden sie sich vorläufig in Sicherheit.
Die Holzwand gegenüber schien zu leben. Noch immer durchwallte sie der farbige Nebel. Doch er war so dicht geworden, dass Michaelas Körper in ihn eintauchte und nur noch in seinen Umrissen zu sehen war. Die Fratzen der Ungeheuer tanzten um sie herum, aber sie bissen nicht zu und zerrten sie weg.
Dagmar und Harry standen und staunten. Zugleich zitterten sie. Weniger vor Angst als vor Wut und Zorn, weil es ihnen nicht gelungen war, Michaela zu retten. Die andere Welt und damit die Gefangenschaft hatte sie wieder zurückgeholt.
Der Kerker war geschlossen!
Ein leerer Platz, eine normale Wand. Nichts deutete darauf hin, was sich hier noch vor Sekunden abgespielt hatte. Kein Mensch hätte das glauben können, doch die beiden wussten es besser.
Dagmar Hansen setzte sich auf einen Tisch. Sie war sehr blass geworden. Auf der Stirn schimmerte der Schweiß. Das nicht nur, weil der Raum hier oben überheizt war.
»Sie ist wieder weg, Harry«, erklärte sie enttäuscht. »Wir haben sie nicht retten können. Wir haben es nicht geschafft, verdammt noch mal! Wir sind Versager.«
Harry winkte ab. »Sieh es nicht so pessimistisch, Dagmar. Sie wird zurückkehren, das spüre ich. Du brauchst keine Sorge zu haben. Es war nicht die erste Begegnung zwischen uns. Daran glaube ich fest.«
Dagmars Blick flackerte. »Vielleicht hast du Recht, Harry, aber ich weiß nicht, ob sie bei unserer zweiten Begegnung noch am Leben sein wird.«
Die Frau mit den roten Haaren senkte den Kopf. Sie tat es öfter, wenn sie nachdachte. Sie legte auch ihre Fingerspitzen gegen die Stirn, als wollte sie durch diese Geste andeuten, dass sie wieder einen Kontakt suchte.
Harry bewegte sich an ihr vorbei. Ihn interessierte der Platz, auf dem Michaela gesessen hatte. Er suchte nach Spuren und vergaß
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