1195 - Der Engelskerker
nicht angegriffen haben.
Hinter ihr befand sich noch immer die Holzwand, die auch Dagmar Hansen und Harry Stahl kennen gelernt hatten. Aber sie hatte sich verändert.
Aus den Poren war etwas Ähnliches wie ein dünner Nebel gekrochen. Nicht hell, sondern leicht gefärbt. Rötlich und grün. Es war auch kein Nebel, der sich ausgebreitet hatte, sondern innerhalb der Hauswand blieb und das Material so aussehen ließ, als wäre es eingefärbt worden.
Es war noch immer die gleiche Umgebung und trotzdem eine andere, wie die beiden Zuschauer feststellten.
Es verging nicht viel Zeit, da hatten sich Dagmar und Harry wieder gefangen. Die Frau schnaufte kurz durch die Nase und nickte der Fremden zu.
Dagmar erlebte keine Reaktion. Aber so leicht gab sie nicht auf und fragte: »Bist du Michaela?«
Sie erlebte kaum eine Reaktion. Nur ein kurzes Zucken der Augenbrauen.
»Warum sagst du nichts? Hast du Angst? Oder möchtest du nichts sagen?«
Ein Nicken. Kurz nur, aber es reichte.
»Also bist du es.«
Wieder das Nicken.
Dagmar lächelte. »Das ist gut. Das ist wunderbar, denn wir haben dich gefunden. Du hast uns doch auch gesucht. Wir haben dich gehört. Deine Schreie und Hilferufe sind bis zu uns gedrungen. Du hast etwas von uns gewollt, denke ich mir. Was ist es gewesen? Wer steht hinter dir? Was hat man dir angetan?«
Michaela bemühte sich um eine Antwort. Sie sollte nicht mehr nur aus dem Nicken bestehen, sondern aus normalen Worten. Es fiel ihr schwer, und sie öffnete auch den Mund, aber Worte entstanden nicht. Höchstens in ihrem Kopf. Sie war nicht in der Lage, sie umzusetzen und gab ein leises Stöhnen ab.
»Kannst du nicht reden?«
Der Blick änderte sich. Dagmar entdeckte darin so etwas wie eine Zustimmung.
»Warum kannst du nicht sprechen?« Abermals veränderte sich der Ausdruck der Augen. Zugleich bewegte sich auch der Mund. Die Lippen öffneten sich. Tief aus der Kehle drang ein Gurgeln. Zugleich versuchte sie, mit ruckartigen Bewegungen und mit noch immer offenem Mund etwas anzudeuten. Sie wollte, dass sich die beiden Zuschauer genau darauf konzentrierten, was sie auch taten.
Harry Stahl beugte sich über den Tisch. Sein Gesicht zeigte große Anspannung. Dabei konzentrierte er sich einzig und allein auf den Mund der jungen Frau - und sah endlich, was da mit ihr geschehen war.
Es war schrecklich. Und das schon für den Betrachter. Aber für Michaela selbst konnte es einfach nur grauenhaft sein, denn man hatte Schlimmes mit ihr angestellt.
Sie besaß keine Zunge mehr!
***
Deshalb also brachte sie kein und nur unartikulierte Laute hervor. Sie musste wahnsinnig gelitten haben, denn sicherlich war sie ein sehr kommunikativer Mensch gewesen - und jetzt das!
»Das ist furchtbar für sie«, flüsterte Dagmar ihrem Partner zu. »Einfach unbeschreiblich.«
Harry nickte nur. Er musste schlucken, bevor er antworten konnte. »Man hat sie stumm gemacht. Man wollte nicht, dass sie sprach. Etwas muss der Grund gewesen sein. Aber sie hat nicht aufgegeben und es auf ihre Art und Weise versucht.«
»Über die geistigen Kräfte. Und sie hat dabei mich erwischt. Demnach sollen wir sie befreien.«
Michaela hatte den Mund wieder geschlossen. Es war Bewegung in sie hineingeraten, denn sie hatte dem kurzen Gespräch der beiden genau zugehört und dabei von einem zum anderen geblickt.
»Siehst du Möglichkeiten, Dagmar?«
»Ich möchte sie mitnehmen.«
»Zu einem Arzt bringen?«
»Wäre gut.«
Harry warf Michaela einen Blick zu, als wollte er sie abschätzen. »Ich weiß nicht, wer sie ist und wie alt sie ist«, flüsterte er mit leiser Stimme, »aber ich kann mir trotz ihres normalen Aussehens vorstellen, dass sie ein Geheimnis in sich birgt. Etwas, das schon lange Jahre zurückliegt.«
»Jahrhunderte?«
»Auch, Dagmar. Man hat etwas mit ihr gemacht. Man hat ihr die Zunge genommen und sie dadurch bestraft. Dann wird man sie in den Engelskerker geworfen haben, damit sie dort stirbt. Aber sie ist nicht gestorben und nicht verwest. Sie ist der Nachwelt in all ihrer Schönheit erhalten geblieben. Warum dies alles passiert ist, das müssen wir herausfinden.«
»Gut, dann gehe ich jetzt zu ihr.«
»Aber sei vorsichtig.«
»Darauf kannst du dich verlassen.«
Während des Gesprächs hatte sich Michaela nicht gerührt und immer nur genau beobachtet. Sie sah auch, wie Dagmar sich in Bewegung setzte und den ersten Schritt auf sie zuging.
Sofort veränderte sich ihre Haltung. Sie riss wieder den Mund auf, und sie
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