1195 - Der Engelskerker
auch nicht die Wand.
Harry konnte sich bemühen wie er wollte und jedes Detail absuchen, es war nichts mehr zu sehen.
Spurenlos waren die Monster und auch Michaela verschwunden.
Er drehte sich nach einer Weile wieder um. Seine Partnerin stand jetzt neben der Kasse. Sie sah zu, wie Harry mit den Schultern zuckte. »Es gibt im Moment keine Möglichkeit«, sagte er. »Wir haben den Kürzeren gezogen. Das siehst du auch so - oder?«
»Leider«, gab Dagmar zu. »Der Kontakt mit Michaela ist bei mir ebenfalls abgebrochen. Lass uns nach unten gehen. Wir müssen den Notarzt für den Wirt holen. Da ist schon eine zu lange Zeit vergangen.«
Noch aus dieser Etage rief Harry über sein Handy an. Er wollte auch mit den Kollegen von der Polizei sprechen und ihnen klar machen, dass gewisse Vorgänge auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Es hätte der Stadt und den hier lebenden Menschen bestimmt nicht gut getan.
Danach gingen sie nach unten. Der Wirt lebte. Er war nur bewusstlos geworden.
»Man hat ihr die Zunge aus dem Mund geschnitten«, sagte Dagmar Hansen. »Man hat sie eingekerkert. Man hat sie gefoltert. Man hat sie gequält, aber es ist ihr trotzdem gelungen, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Zumindest mit mir. Und dann hat sie ihr verdammtes Gefängnis noch verlassen können. Irgendwie gibt mir das Hoffnung.«
»Stimmt. Nur müssen wir nach den Gründen fragen. Wir wissen zu wenig über sie. Außerdem wissen wir nicht, weshalb man sie in den Kerker gesteckt hat.«
»Das kann ein Fall für die Stadtgeschichte sein.«
»Wird es auch. Wobei sich Tatsachen und Legenden vermutlich überschneiden. Das sollte uns nicht stören, denke ich. Wir werden uns um beides kümmern müssen.«
Draußen war es noch immer dunkel und sehr still. Sie gingen zur Tür und ließen die kalte Luft herein. Auf der Schwelle drängten sich Dagmar und ihr Freund zusammen. Harry spürte den Druck an seiner Schulter, gegen die Dagmar den Kopf gelegt hatte.
»Wer immer sie auch ist, Harry, und was immer sie getan hat, sie tut mir schrecklich leid. Ein derartiges Schicksal wünsche ich wirklich keinem.«
Er stimmte ihr zu, und er war jetzt davon überzeugt, dass das Lokal seinen Namen zu Recht bekommen hatte, denn es war ein Engelskerker. Als das Blaulicht über die Wände zuckte und sie das Knirschen der Reifen auf dem Schnee hörten, da wussten sie, dass die normale Welt sie wiederhatte…
***
»Mein Name ist Sinclair, John Sinclair«, sagte ich zu der netten Dame hinter der Rezeption, als sie mich durch die runden Gläser ihrer Brille anschaute.
»Ja, Sie hatten reserviert.«
»Stimmt. Von Hannover aus, wo ich landete.«
»Herzlich willkommen bei uns.«
Der Rest war Formalität: Ich füllte den Anmeldezettel aus, bekam den Zimmerschlüssel, nahm meine Reisetasche und ging über die breite und geschwungene Treppe hoch in die erste Etage, in der sich der Gang teilte.
Ich musste nach rechts, denn dort befand sich mein Einzelzimmer, das an Größe einiges zu wünschen übrig ließ, mir jedoch reichte es. Ich wollte in diesem Raum ja nur übernachten und keine Feste feiern. Ein kleines Fenster gestattete mir den Blick auf den Marktplatz, der ebenso historisch war wie das Hotel.
Ich warf einen Blick ins Bad. Eine Kammer, in der man sich kaum umziehen konnte. Aber es war sauber, und mehr wollte ich eigentlich nicht.
Es war verdammt kalt in Goslar. Die Kälte drückte sich auch in die schmalen Gassen hinein, durch die ich zum Hotel gefahren war. Mein Wagen parkte noch vor dem Hotel. Man hatte mir gesagt, dass ich ihn auf einen Parkplatz hinter dem Haus fahren konnte.
Das tat ich noch nicht, sondern warf einen Blick nach draußen. Der Platz war recht belebt. Am Wochenende schien die Stadt zahlreiche Fremde zu beherbergen, denn ich sah zwei Reisegruppen, die sich von einer Führerin und einem Führer die Stadt zeigen ließen. Vor den Lippen der Menschen kondensierte der warme Atem.
Ich hörte auch, dass über das Hotel gesprochen wurde. Es zählte zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Ich hatte es durch einen Zufall gefunden und war mit dem Leihwagen - einem Golf - ziemlich lange durch die Gassen gekurvt, bis ich an mein Ziel gelangt war.
Jetzt war ich eingetroffen und wusste zunächst mal nicht, wie es weitergehen sollte. Es hatte keinen weiteren Kontakt mehr gegeben. Weder durch Hilferufe einer Gefangenen noch durch den Besuch der Clarissa Mignon. Ich war auf mich allein gestellt. In der Enge des Zimmers
Weitere Kostenlose Bücher