1195 - Der Engelskerker
einigen hundert Jahren auch viele Schweinereien hier passiert, das kann man in alten Dokumenten und Archiven nachlesen. Aber ich sehe auch eine andere Möglichkeit.«
»Welche?«, fragte Dagmar.
»Engel.«
»Oh.«
»Ja, diese Michaela kann so etwas wie ein Engel gewesen sein.«
»Und zugleich Hexe?«
Ich lachte leise. »Für manche Menschen schon. Viele können nicht unterscheiden und werfen die Dinge in einen Topf. Aber vorstellbar wäre das für mich schon.«
Dagmar schaute ihren Freund an. »Wie siehst du die Sache, Harry?«
»Durchaus positiv.« Er lächelte. »Aber etwas stört mich schon an dir, John.«
»Raus damit.«
Er deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Bisher haben wir nur von uns erzählt. Wir wissen leider nicht, wie du an diesen Fall herangekommen bist. Hast du eine Botschaft oder einen Auftrag erhalten?«
»Botschaft ist schon richtig.« Ich nickte gedankenverloren. Im Moment tat sich nichts. Da mussten wir erst die Fakten sammeln, und so hatten wir auch Zeit.
Ich holte recht weit aus und berichtete zunächst von dem Templerkind Clarissa Mignon und davon, dass sie vor meinen Augen entführt worden war. Dann kam ich auf den doppelten Kontakt zu sprechen und erzählte, was mir noch im Gedächtnis geblieben war.
Beide staunten und schauten mich offenen Mundes an. Schließlich blies Harry seinen Atem über die Tischdecke. »Was hat diese Clarissa denn mit unserer Michaela zu tun?«
»Wenn wir das wüssten, hätten wir den Fall gelöst. Sie will zumindest, dass wir Michaela befreien, wozu sie leider nicht in der Lage ist. Wir sollen sie aus ihrem Gefängnis herausholen, wie auch immer. Bewacht wird sie von schrecklichen Dämonen, und die sind euch ja vor die Augen gekommen.«
»Es waren Monster«, flüsterte Dagmar.
»Eben. Sehr starke. Ich denke, dass es schwierig sein wird, den Kerker überhaupt zu öffnen, um an diese Gestalten heranzukommen. Auch fürchte ich, dass sie nicht in der gleichen Dimension existieren wie wir. Sie müssen in einer anderen Welt hausen, haben aber zugleich einen Übergang geschaffen. Das ist es, was ich vermute, und mehr kann ich euch auch nicht sagen.«
»Wobei sich der Kerker in einem Lokal befindet.« Harry schüttelte den Kopf. »Das kann ich einfach nicht nachvollziehen. Das ist mir wirklich eine Etage zu hoch.«
»Verstehe ich.«
»Aber es gibt für uns momentan keine andere Möglichkeit.« Dagmar blieb dabei. »Wir müssen jemand finden, der über die Historie dieses Hauses informiert ist. Es kann damals durchaus einen Kerker gegeben haben, in den man schuldige und unschuldige Menschen hineinsteckte. Man weiß ja, wie schnell das damals ging. Dass John und ich Kontakt bekommen haben, hängt eben damit zusammen, dass wir etwas außergewöhnlich sind. Ich durch meine Abstammung und John durch den Besitz seines Kreuzes, denke ich mal.«
»Kann sein«, sagte ich.
Dagmar schlug auf den Tisch. »Was machen wir?«
Ich hatte schon eine Idee. »Ist das Lokal geöffnet?«
Harry winkte ab. »Wenn nicht, werden wir dafür sorgen.«
»Eher nicht«, sagte Dagmar. »Der Wirt liegt im Krankenhaus. Wer soll den Laden leiten, da seine Frau auch nicht in der Stadt ist?«
Ich winkte ab. »Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Gedanken machen. Lass uns erst mal hingehen.«
»Gut.«
Wir standen zugleich auf. Ich winkte die Bedienung heran und bat sie, die Rechnung aufs Zimmer zu schreiben. Danach verließen wir den mollig warmen Raum und traten hinein in die Kälte…
***
Am Himmel stand eine blasse Sonne. Von Süden hatten sich erste Wolkenschleier herangeschoben und sich wie breit gefächerter Nebel vor die runde Scheibe gelegt, sodass ihr ein Teil der sowieso nicht starken Kraft genommen wurde.
Wir gingen vom Hotel weg, an einer alten Apotheke vorbei, die ebenfalls auf ein historisches Dasein zurückblicken konnte, passierten ein Bistro, einen Andenkenladen, gingen dann um die Ecke und konnten in weitere Schaufenster schauen.
Die Menschen hier im Freien hatten sich dick vermummt. Man sah auch Pelzmützen und Pelzmäntel.
Mir fiel das Lokal nicht sofort auf, denn mein Blick wurde von einem großen Mühlrad angezogen, das sich nicht mehr drehte. An den Schaufeln hingen dicke Eiszapfen. Wasser floss durch einen Mühlbach. Es war nicht in der Mitte gefroren, aber an den Seiten hatte sich grauweißes Eis gebildet.
Es gab auch einen Spazierweg, der am kleinen Bach entlangführte und sich zwischen schmale Häuser drängte, auf deren Dächern der alte
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