1195 - Der Engelskerker
dann werden wir mal den Versuch starten.«
Als ich mich an ihm vorbeischieben wollte, hielt er mich fest. »Nimmst du dein Kreuz?«
»Sicher. Wenn sich Michaela schon nicht von allein meldet, muss ich versuchen, sie zu locken.«
»Das ist okay.«
Dagmar Hansen tat nichts. Ich sah in ihr Gesicht, von dem mich besonders die Stirn interessierte.
Sie hatte meinen Blick bemerkt und schüttelte den Kopf.
»Kein Kontakt, John - leider.«
Es war ziemlich dunkel hier oben. Robert Schwarz dachte zudem nicht daran, das Licht einzuschalten, was mich auch nicht weiter störte. Die Dunkelheit war sogar besser für mein Vorhaben.
Noch trennte mich der Tisch von der rückseitigen Holzwand. Ich musste an der Seite vorbeigehen, um die Wand zu erreichen, denn großartig verrenken wollte ich mich nicht.
Es reichte aus, wenn ich einen Stuhl in den Gang hineinschob. Harry nahm ihn mir ab, und ich konnte jetzt die Kette mit dem Kreuz über den Kopf streifen.
Dazu kam es nicht mehr.
Urplötzlich hörte ich die Stimme in meinem Kopf. Ja, es war eine Stimme, obwohl man Michaela die Zunge herausgeschnitten hatte, wie ich von Harry und Dagmar erfahren hatte. Aber es waren zugleich ihre Gedanken, die sie auf dem Weg der Telepathie so deutlich formulierte.
»Mein Retter ist da…«
Gefangen!
Gefangen in ewigen Qualen. Gefangen in der Unendlichkeit einer Welt ohne Grenzen. Gefangen zudem in einer Welt, in der die Zeit nicht mehr existierte. Eine mächtige Kraft hatte sie aus dem Dasein der Michaela hinweggeschafft, und so irrte sie als lebendige Person durch eine Hölle, die sich keine Menschen ausgedacht hatten.
Es war die Dimension des Schreckens oder eine davon. Eine Welt ohne Gott, ohne Liebe, ohne all das, was ein Mensch braucht, um überleben zu können.
Aber sie hatte überlebt, und sie hatte den Preis für das Überleben bezahlt.
Die anderen Gefangenen waren den Weg nicht mit ihr gegangen, sie hatten aufgegeben und wollten sterben. Nicht so Michaela. Sie war einfach zu jung, um schon jetzt dem Sensenmann die Hand zu reichen. Das wollte sie auf keinen Fall, und so hatte sie sich entschieden, mit den anderen zu gehen.
Aber wer waren die anderen?
Sie wusste es noch immer nicht. Sie sah sie nur als schreckliche Geschöpfe an. Als Albträume aus dem Reich der Finsternis. Gestalten, die es in der normalen Welt nicht gab. Monster, keine Menschen - ja, sie hatte nicht einen einzigen Menschen gesehen. Sie musste all die Zeit mit den Wesen verbringen. Stumm, denn sie konnte nicht reden, weil, ihre Peiniger ihr die Zunge herausgeschnitten hatten.
Zu schön war sie gewesen. Zu schön für eine kleine Welt, in der Hass, Neid und Zwietracht regierten. Sie war den anderen Frauen ein Dorn im Auge gewesen, und so hatte man sie dem Inquisitor vorgeführt und als Hexe denunziert.
Dabei hatte sie nichts getan, gar nichts. Vor allen Dingen nichts Schlimmes. Sie war zu fröhlich gewesen, und sie hatte den Männern zu feurige Blicke zugeworfen.
Die Eltern hatten Michaela nicht helfen können. Sie waren auch nur Leibeigene gewesen und hatten beide in den Silbergruben arbeiten müssen.
Nicht so ihre Tochter. In einer Schänke hatte sie Arbeit gefunden. Zweimal war sie von dem Besitzer vergewaltigt worden, aber nicht er war bestraft worden, sondern sie, weil die Wirtin sie denunziert und die härteste aller Strafen gefordert hatte.
Das war auch geschehen, denn in der Schänke verkehrten die hohen Herren nach ihren Gerichtssitzungen und dem Aussprechen der Urteile. Dann hatten sie immer einen Grund zu feiern.
Dann kam er. Kurz vor ihrem Tod. Kurz bevor sie austrocknete. Er hatte ihr den Vorschlag gemacht, sie zu holen, Welten und Grenzen zu überbrücken. Er hatte ihr angeboten, mehr zu sein als die normalen Menschen, und sie hatte nicht lange nachgedacht. Von allen Schutzheiligen verlassen, hatte sie sich denen der Gegenseite hingegeben und sich in ihren Armen sicher gefühlt.
Es war die Vorhölle, das Fegefeuer oder die Hölle selbst, die sie von nun an erlebte. Er gab keine Grenzen mehr für sie. Es war völlig anders. Sie konnte gehen, wohin sie auch wollte, nur nicht mehr in die normale Welt zurück.
Michaela war nie von Grund auf schlecht gewesen. Für ihre Schönheit konnte sie nichts, und sie hatte stets versucht, den geraden Weg zu gehen. Nie hatte sie daran gedacht, ihren Körper zu verkaufen, und sie hatte sich immer an anderen Dingen orientiert. Sie wollte etwas Besonderes sein und mal ganz oben in der Herrlichkeit stehen.
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