1195 - Der Engelskerker
mit langen breiten Fingern. Sie hatten sich durch die Fenster geschlichen und drangen auch bis zu uns hin vor, sodass sie einen Teil der Theke bedeckten.
Robert Schwarz schaltete einige Lampen ein. Über der Theke wurde es hell. Er hatte auch gefunden, was er gesucht hatte, und legte uns ein vergilbtes und beschriebenes Blatt auf den Tisch. Um es nicht noch weiter vergilben zu lassen, war es in eine Plastikfolie gesteckt worden. Um den Text zu lesen, brauchten wir es nicht herauszuziehen.
»Darf ich?«, fragte Dagmar.
»Bitte.«
Sie nahm es an sich. Harry und ich flankierten sie, sodass wir mitlesen konnten. Der Text war mit der Schreibmaschine geschrieben worden, und wir erfuhren, dass dieses Haus mehr als 500 Jahre alt war. Seine alten Grundmauern standen noch immer. Darauf war dann ein neues Gebäude errichtet worden, das aber auch irgendeinem Brand zum Opfer gefallen war. Später wurde es dann wieder aufgebaut und war in seiner alten Form bis heute erhalten geblieben.
Es hatte tatsächlich als Kerker gedient. Die Fenster mussten noch nicht so vorhanden gewesen sein.
In den Kerker hinein waren zumeist Frauen geworfen worden, die sich der Hexerei und der Kindbettentführung schuldig gemacht hatten. Ob sie wirklich schuldig gewesen waren, stand in den Sternen, doch danach hatte man früher nicht gefragt. Hinzu kam, dass dieser Kerker bereits eine Todeszelle gewesen war. Man hatte die Frauen einfach verhungern und verdursten lassen und später ihre toten Leiber verbrannt.
So einfach und brutal war das Gesetz in den damaligen Zeiten vorgegangen.
»Zufrieden?« fragte Robert Schwarz, als Dagmar das Blatt sinken ließ.
»Interessante Geschichte«, antwortete sie. Mit dieser Antwort bewies Dagmar, dass sie ebenso wenig zufrieden war wie auch Harry und ich, denn diese Michaela war nicht erwähnt worden.
»Sie haben nicht zufällig weitere Unterlagen zur Hand?« erkundigte ich mich.
»Nein, das hier ist alles.«
»Wurden denn etwas mündlich weitergegeben?«, erkundigte ich mich.
»Äh, wie meinen Sie das?«
»Nun ja. Haben Ihre Eltern oder die Gäste mal über, die Vergangenheit des Hauses gesprochen?«
»Weiß ich nicht.«
»Haben Sie hier nicht mitgeholfen?«, wollte Harry wissen.
»Ja, ab und zu mal am Wochenende. Aber da haben wir andere Themen draufgehabt. Ich habe mit dem Lokal hier nichts zu tun. Ich gehe meinen eigenen Weg. Ich spiele Fußball, ich arbeite in einem Computerladen, und ich will auch mal Freizeit haben und nicht den ganzen Tag und die halbe Nacht in der Kneipe verbringen. Ich bin auch nur hier, weil das mit meinem Vater passiert ist. Sonst sehen Sie mich hier kaum. Ehrlich. Da erzähle ich nichts.«
»Danke«, sagte Harry und drehte sich von ihm weg, um mich anzuschauen.
Mir lag schon längst eine Frage auf den Lippen, und die stellte ich jetzt dem Junior. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns hier im Lokal mal umschauen?«
»Nein.« Er lachte verlegen. »Aber was gibt es denn so Interessantes zu sehen?«
»Wir wollen uns den oberen Bereich näher ansehen. Sie brauchen nicht mitzukommen.«
»Danke, ich bleibe gerne hier. Aber lange kann ich Sie nicht mehr hier lassen. Ich muss weg zu einem Termin.«
»Alles klar. Bis dann sind wir durch.«
Dagmar und Harry kannten den Weg nach oben. Ich stieg hinter ihnen die schmale Holztreppe hoch und konzentrierte mich dabei auf mein Kreuz und lauschte zugleich in mich hinein, ob sich die Gefangene wieder meldete.
Noch hörte ich nichts. Auch als wir die erste Etage erreicht hatten und in der relativen Enge stehen blieben, blieb alles im grünen Bereich.
Ich konzentrierte mich auf Dagmar, die sich nicht bewegte, still auf der Stelle stand und nur an ihrer Unterlippe nagte.
»Spürst du was?«
Sie hob die Schultern. »Nein, John, aber hier ist es gewesen. Hier haben wir gesessen.«
»Wo genau?«
Sie wies auf eine Sitzecke, die in eine Nische hineingebaut worden war. Den rustikalen Tisch und die Stühle umgaben drei mit Holz getäfelte Wände, an denen ich nichts Außergewöhnliches feststellen konnte.
Harry Stahl hatte mich beobachtet und sagte mit leiser Stimme: »In der Wand haben wir sie zum ersten Mal gesehen. Michaela und auch die Monster.«
»Nein, Harry«, korrigierte Dagmar, »sie saß am Tisch.«
»Genau, so war es. Dann hat man sie geholt.«
Ich runzelte die Stirn. »Sie ist also freigelassen worden. Man hat sie aus der anderen Welt praktisch herausgeschafft?«
»Genau.«
»Das ist ein kleiner Hoffnungsfunke. Okay,
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