12 – Das Raetsel von Chail
verschwand, da war er erst zweiundfünfzig Jahre alt, und er war kerngesund. Zwei Jahre später war Kormbat fort, und er war knapp sechzig und im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte. Beide waren aktiv, sie brauchten mehr als eine karge Mahlzeit am Tag. Sie können nicht beide in der Hütte des Uralten stecken, es sei denn, sie hätten sich entschlossen, freiwillig zu verhungern.«
»Vielleicht haben sie sich umgebracht«, rutschte es dem Arkoniden heraus.
Amodar starrte ihn mit seinen seltsamen Augen an. »Meinst du nicht, dass du mit deinen Fragen vielleicht am falschen Ende begonnen hast?«, fragte er schließlich.
Atlan gab nach. Natürlich hatte der Mann recht. Die Uralten bildeten offenbar den Endpunkt einer Entwicklung. Wie sollte er diesen Endpunkt beurteilen können, wenn er den Anfang nicht kannte?
»Erzähle«, bat er seinen Gastgeber. »Wie läuft euer Leben ab?«
Amodar streichelte das Tier, das es sich auf seinen Schenkeln gemütlich gemacht hatte, und sah dabei ins Leere.
»Wir wachsen sehr frei auf«, sagte er leise. »Ich weiß, dass es Völker gibt, die ihre Kinder mit unzähligen Tabus einzuengen versuchen. Wir tun das nicht. Unsere Kinder orientieren sich normalerweise nach jenen, die zwar etwas älter sind, aber ihnen immer noch nahe genug stehen. Sie haben nur wenige Pflichten und sind sehr abenteuerlustig. Die Arbeit auf den Feldern und hier im Dorf reizt sie meistens nicht besonders. Es zieht sie hinaus. Unsere Kinder lernen früh, selbständig zu sein, eine Bindung zur Familie ist kaum vorhanden, wohl aber zur Gemeinschaft. Die Kinder betrachten sich als Angehörige ihres Dorfes.«
Atlan beobachtete den Chailiden aufmerksam. Er bedachte die besondere Lage dieses Mannes, der – wenn es nach den Roxharen ging – Ungilara schon bald verlassen und nie wiedersehen würde, und er sah die Trauer in Amodars Augen. Sicher dachte Amodar an seine eigene Kindheit zurück.
»Das bleibt auch später so«, fuhr der Chailide fort. »Die Bindung zum Dorf bleibt erhalten, selbst wenn manche Jäger sich zeitweilig sehr weit von uns entfernen – räumlich; geistig bleiben sie bei uns. Abgesehen davon ist es ihre Aufgabe, uns mit Fleisch zu versorgen. Du hast unsere Felder gesehen – sie wären viel zu klein, um uns zu ernähren.«
»Habt ihr keine Nutztiere?«
»Wir haben die Murlen. Man kann auf ihnen reiten, und ihr Fleisch ist essbar, aber die Murlen werden fast ausschließlich von den Jägern benutzt, und sie entwickeln häufig sehr starke, persönliche Gefühle für die Tiere. Nur im äußersten Notfall würde ein Chailide ein Murl töten und essen.«
»Ihr habt noch andere Haustiere.«
Das katzenhafte Wesen hob den Kopf, legte die Ohren an und bedachte Atlan mit einem Fauchen.
»Ruhig, Skef«, mahnte Amodar besänftigend. »Er meint nicht dich.«
»Kann es uns verstehen?«, fragte Atlan verblüfft.
»Nein, aber es ist sehr sensibel. Alle Tiere, die du hier im Haus gesehen hast, sind nicht für den Kochtopf bestimmt. Sie dienen einerseits dazu, die Kinder an den Umgang mit der fremden, nicht vernunftbegabten Kreatur zu gewöhnen. Andererseits benutzen wir sie manchmal als Meditationshilfen.«
»Die Jäger beliefern euch also mit Fleisch«, kehrte Atlan zum eigentlichen Thema zurück. »Und sie tun es freiwillig.«
Der Chailide sah ihn erstaunt an. »Natürlich freiwillig! Schließlich wissen sie, dass sie nach einigen Jahren in ihr Dorf zurückkehren werden. Nach Eintritt der Geschlechtsreife finden sie Partner, und sie verspüren den Wunsch, eine Familie zu gründen. Das kann man schlecht in der Wildnis tun. Also gehen sie zurück und werden sesshaft. Sie legen ihre bunten Gewänder ab, gehen nicht mehr auf die Jagd, sondern arbeiten auf den Feldern und hier im Dorf. Sie versorgen die Kinder und die Meditierenden, und sie stellen die Waffen her, die die Jäger brauchen.«
»Woher bekommt ihr das Metall?«
»Früher haben wir es selbst gewonnen, jetzt tauschen wir es in Syrgan gegen andere Waren ein. Die Leute in Syrgan holen es aus den Bergen im Westen der Stadt.«
»Wenn eure Kinder selbständig genug sind, beginnt ihr zu meditieren«, vermutete Atlan.
»Ja. Sie gehen in den Wald und wir beginnen mit den ersten Übungen.«
»Warum nicht früher? Warum schult ihr nicht schon eure Kinder?«
Amodar lachte. »Das geht nicht. Die Meditation erfordert volle Konzentration, und zu der sind wir erst fähig, wenn wir das entsprechende Alter erreicht haben. Als Kinder
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