12 - Die Nadel der Götter
war vor ein paar Stunden untergegangen und Maria Luisa hatte sich gerade hingelegt, um wenigstens Spuren von Schlaf abzubekommen. Vor dem Bett lag McDevonshire auf einer Matratze und schnarchte. Von Anfang an hatten sie ihr Quartier in nur einem der gemieteten Zimmer aufgeschlagen. Die anderen hatten sie nur betreten, um Polster herüberzuholen.
Sofort waren die beiden hellwach und bauten sich neben Tom auf. Der wandte sich so, dass sein Arm ins Landesinnere wies. Stück um Stück drehte er sich weiter, doch die Einzelringe des Reifs verschoben sich stetig, ohne den Pfeil auszubilden.
Tom zog die Augenbrauen zusammen. Damit hatte er nicht gerechnet. Andererseits erleichterte es ihn auch. Denn ihre Befürchtung, die Nadel der Götter könne mit dem Atomprogramm des Iran zu tun haben, traf offenbar nicht zu.
Aber wo lag das Ziel stattdessen?
Er drehte sich weiter … und plötzlich fügten sich die Einkerbungen auf den Ringen zu einem Pfeil.
»Das verstehe ich nicht«, sagte McDevonshire. »In dieser Richtung liegt doch nur das Meer!«
In diesem Augenblick begriff Tom. Fast hätte er sich gegen die Stirn geschlagen. »Wir sind unserem von Grenzen bestimmten Denken zum Opfer gefallen. Das Tor aus dem zeitlosen Raum führte uns in den Iran, also vermuteten wir, dass die Nadel der Götter hier zu finden sein müsse. Das ist falsch!«
Hektisch breitete er die Landkarte auf dem Tisch aus.
Dank des Kabels, das McDevonshire in einem der nahegelegenen Geschäfte besorgt hatte, verfügte Sandersons Smartphone wieder über eine volle Akkuladung. Tom startete die Kompassfunktion und übertrug die Peilung des Armreifs in die Landkarte. Den Bleistift hatte er in einer Schublade gefunden. Als Lineal benutzte er die Kante eines Buchs.
Der Strich verlief genau so, wie Toms plötzliche Eingebung es vorhergesagt hatte. Er zeichnete einen Kreis um den Ort, um den es ihm ging.
»Die Vereinigten Arabischen Emirate?«, fragte Maria Luisa mit Blick auf die Karte.
»Dubai«, präzisierte Tom. Er überschlug die Entfernung. »Gerade mal zweihundert Kilometer entfernt.«
»Von mir aus haltet mich für ungebildet«, sagte McDevonshire. »Aber was finden wir dort?«
»Den Burj Khalifa! Das höchste Gebäude der Welt.«
***
Innerhalb weniger Stunden änderte sich das Wetter dramatisch. Ein Temperatursturz auf knapp unter zwanzig Grad sorgte für heftige Stürme.
Tom wusste nicht, ob es sich dabei um das übliche Chaos handelte, das die Weltuntergangsmaschine verursachte, oder ob die Neuausrichtung der Erdfeldlinien daran schuld war.
Der Hubschrauberflug über den Persischen Golf glich einer Achterbahnfahrt, die dem Piloten und den Mägen seiner Passagiere alles abverlangte. Und je näher sie Dubai kamen, umso schlimmer wurde es.
»Was könnte beim Burj Khalifa passiert sein, dass sich die Erdkraftlinien plötzlich dort bündeln?«, fragte Spencer McDevonshire, wahrscheinlich nur, um sich vom Flug abzulenken.
Das wusste auch Tom nicht zu sagen. Gewiss benötigte der Monsterturm Unmengen an Energie, aber warum hatten die bisher nicht ausgereicht, um den Effekt auszulösen?
»Keine Ahnung! Wir werden es vor Ort …«, setzte er an, doch das Absacken des Helikopters riss ihm die Worte von den Lippen. Die Passagiere krallten sich an ihren Sitzen fest.
Der Pilot umklammerte den Steuerknüppel. In Toms Geist tauchte das Bild eines Toreros auf, der den Stier bei den Hörnern gepackt hatte und versuchte, das Tier niederzuringen.
Der Kampf gegen Technik und Naturgewalten dauerte nur wenige Sekunden, dann bekam der Pilot den Helikopter wieder unter Kontrolle. Fast hätte Tom ihm anerkennend auf die Schulter geklopft, aber eine Ablenkung in diesem Augenblick wäre gewiss nicht hilfreich gewesen.
»Wie hoch ist das Gebäude?«, fragte McDevonshire, als sie zur Ruhe gekommen waren.
»Über achthundert Meter«, antwortete Tom.
»Müssten wir es nicht allmählich sehen?«
»Nicht bei Wetter wie dieses«, erklang die Stimme des Piloten. »Wenn klar, können sehen über hundert Kilometer.«
Schweigen kehrte ein. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Was erwartete sie im Burj Khalifa? Wie reagierte die Weltuntergangsmaschine, wenn sie überlud? Würde sie einfach aufhören zu funktionieren? Schmelzen? Oder explodieren und einen tiefen Krater hinterlassen, wo einst Dubai gestanden hatte?
Tom sah zu Maria Luisa und McDevonshire. Durfte er sie der Gefahr aussetzen, ihr Leben zu verlieren, nur weil sie ihn begleiteten?
Glaubst du, sie würden
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