12 - Im Auge des Tigers
des Schafts injiziert die Trägersubstanz. Das Opfer wird es wahrscheinlich bemerken – es fühlt sich in etwa wie ein Bienenstich an, allerdings weniger schmerzhaft –, aber binnen anderthalb Minuten wird es kaum jemandem davon erzählen können. Wahrscheinlich sagt es nur ›autsch‹ und reibt sich die Stelle – wenn überhaupt. Als ob man von einer Mücke in den Hals gestochen wird. Man klatscht drauf, aber man ruft nicht gleich die Polizei.«
Davis hielt den ungefährlichen blauen Stift in der Hand.
Er war recht dick – wie die Sorte, die Drittklässler verwenden, wenn sie nach extra dicken Blei- und Buntstiften zum ersten Mal einen Kugelschreiber benutzen dürfen. Während man auf das Opfer zuging, zog man ihn also aus der Man-teltasche, stach hinterrücks von unten zu und ging einfach weiter. Der Kollege im Gefolge sah dann zu, wie das Opfer auf der Straße zusammenbrach, blieb vielleicht sogar stehen, um Hilfe zu leisten, sah dem Bastard beim Sterben zu und ging dann seiner Wege – oder rief einen Krankenwagen, damit die Leiche ins Krankenhaus geschafft und unter ärztlicher Aufsicht kunstgerecht zerlegt wurde.
»Was sagst du, Tom?«
»Gefällt mir, Gerry«, kommentierte Davis. »Doc, wie si-298
cher sind Sie, dass sich das Zeug im Körper des toten Opfers wirklich in Wohlgefallen auflöst?«
»Sicher«, erwiderte Dr. Pasternak, und seine zwei Gastgeber riefen sich ins Gedächtnis, dass er schließlich Professor für Anästhesiologie am Columbia University College für Allgemeinmedizin und Chirurgie war. Anzunehmen, dass er wusste, wovon er sprach. Außerdem vertrauten sie ihm bereits so weit, dass sie ihn in die Geheimnisse des Campus eingeweiht hatten. Jetzt wäre es etwas zu spät gewesen, dieses Vertrauen zurückzuziehen. »Das ist ganz elementare Biochemie. Succinylcholin besteht aus zwei Molekülen Acetylcholin. Esterasen im Körper spalten die Chemikalie innerhalb ziemlich kurzer Zeit in Acetylcholin auf, sodass es höchst unwahrscheinlich ist, dass die eigentliche Substanz entdeckt wird – selbst von den Experten oben im Columbia-Presbyterian. Das eigentliche Problem besteht in der unbemerkten Anwendung. Wenn man die betreffende Person zum Beispiel in einer Arztpraxis behandelte, brauchte man nur Kaliumchlorid zu injizieren. Das würde Herzkammerflimmern auslösen. Wenn Zellen absterben, wird ohnehin Kaliumchlorid freigesetzt, sodass der relative Anstieg der Konzentration nicht weiter auffiele.
Allerdings wäre die Einstichstelle schwer zu verbergen. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten für so etwas – ich musste aber eine auswählen, die auch für wenig geschulte Personen recht einfach durchzuführen ist. In der Praxis könnte möglicherweise selbst ein wirklich guter Pathologe die genaue Todesursache nicht feststellen – allerdings wäre er sich bewusst, dass er sie nicht findet, was ihm zu denken geben würde. Aber das gilt nur, wenn ein wirklich begnadeter Arzt die Leiche untersucht. Davon gibt es nicht allzu viele.
Ich meine, der Beste oben in Columbia ist Rich Richards.
Der hasst es wie die Pest, wenn er etwas nicht rauskriegt. Er ist ein wahrhaft Intellektueller, einer, für den Probleme dazu da sind, gelöst zu werden, und überdies nicht nur ein herausragender Allgemeinmediziner, sondern auch noch 299
ein genialer Biochemiker. Ich habe ihn nach dieser Sache gefragt, und er sagte mir, es wäre wirklich extrem schwer nachzuweisen, selbst wenn er wüsste, wonach er zu suchen hätte. Gewöhnlich kommen noch verschiedene Nebenfakto-ren ins Spiel – die spezifische Biochemie des jeweiligen Körpers, was der Betreffende gegessen oder getrunken hat… auch die Umgebungstemperatur ist ein bedeutender Faktor. An einem kalten Wintertag im Freien würden die Esterasen das Succinylcholin möglicherweise nicht abbauen können, weil die Kälte die chemischen Prozesse hemmt.«
»Das heißt, man sollte nicht gerade im Januar in Moskau jemanden umbringen?«, fragte Hendley. Dieser hochwis-senschaftliche Kram war nicht seine Sache, aber schließlich kannte sich Pasternak aus.
Der Professor lächelte. »Korrekt. Das Gleiche gilt auch für Minneapolis.«
»Ein qualvoller Tod also?«, hakte Davis nach.
Pasternak nickte. »Ganz entschieden unangenehm.«
»Reversibel?«
Pasternak schüttelte den Kopf. »Wenn das Succinylcholin erst einmal in die Blutbahn gelangt ist, dann kann man nichts mehr machen… Das heißt, grundsätzlich wäre es denkbar, den Betreffenden künstlich zu beatmen, bis
Weitere Kostenlose Bücher