12 - Im Auge des Tigers
dringend war es auch wieder nicht. Wenn bin Sali an Drogen gestorben war – er und seine Kollegen nahmen dies als wahrscheinlichste Todesursache an –, dann hatte er sie nicht von Rosalie bekommen, die weder süchtig war noch dealte. Für ein Mädchen, dessen Bildungsweg sich auf öffentliche Schulen beschränkte, war sie außerdem nicht blöd. Ihr Job war zu einträglich, als dass sie ein solches Risiko eingegangen wäre. Laut ihrer Akte ging sie sogar hin und wieder zur Kirche. »Sicher«, erwiderte Bert. Er war gespannt, wie sie die Neuigkeit aufnehmen würde, rechnete aber nicht damit, dass sie entscheidend zur Aufklärung beitragen könnte.
»Wunderbar. Bis ba-ald«, flötete sie, bevor sie auflegte.
Im Guy’s Hospital hatte man die Leiche bereits in den Ob-duktionssaal gebracht. Sie lag entkleidet und mit dem Gesicht nach oben auf einem Edelstahltisch, als der ranghöchste diensthabende Pathologe hereinkam. Sir Percival Nutter war mit seinen 60 Jahren ein renommierter Wissenschafts-mediziner und Leiter der pathologischen Abteilung des Krankenhauses. Seine Laboranten hatten der Leiche bereits 0,1 Liter Blut entnommen und zur Untersuchung ins Labor geschickt. Das war eine beträchtliche Menge, aber schließ-
lich sollte auch jeder nur erdenkliche Test durchgeführt werden.
»Also schön, augenscheinlich handelt es sich um eine männliche Person im Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren – besorgen Sie seinen Ausweis, damit wir die exakten 454
Daten erhalten, Maria«, sprach er in das von der Decke hängende Mikrofon, das an ein Tonbandgerät angeschlossen war. »Gewicht?« Diese Frage war an einen Assistenz-arzt gerichtet.
»73,6 Kilogramm. Größe 181 Zentimeter«, antwortete der frischgebackene Arzt.
»Bei visueller Inspektion der Leiche lassen sich keinerlei Merkmale erkennen, die auf einen kardiovaskulären oder neurologischen Vorfall hindeuten. Wieso also diese Eile, Richard? Der Tote ist ja noch warm.« Keine Tätowierungen oder dergleichen. Die Lippen waren bläulich verfärbt. Die inoffiziellen Kommentare des Mediziners würden selbstverständlich aus der Aufzeichnung gelöscht werden, aber eine noch warme Leiche war schon ziemlich ungewöhnlich.
»Die Polizei hat darum gebeten, Sir. Offensichtlich ist er auf offener Straße tot umgefallen, während er von einem Polizisten observiert wurde.«
»Haben Sie Nadeleinstiche entdeckt?«, fragte Sir Percy.
»Nein, Sir, nichts dergleichen.«
»Und was halten Sie von der Sache, junger Mann?«
Richard Gregory, der neue Arzt, der seinen ersten Aus-bildungsabschnitt in der Pathologie absolvierte, zuckte in seinem grünen Kittel mit den Achseln. »Die Art, wie er laut Polizei einfach umgekippt ist, deutet auf einen schweren Herzinfarkt oder einen ähnlich gelagerten Anfall hin – sofern keine Drogen im Spiel waren. Dazu sieht er allerdings zu gesund aus, und seine Haut weist auch keine Einstichspuren auf, die auf Drogen hindeuten würden.«
»Für einen Infarkt mit tödlichem Verlauf ist er ziemlich jung«, bemerkte der Chefarzt. Er brachte dem Leichnam nicht mehr Gefühl entgegen als einem Stück Fleisch im Supermarkt oder einem erlegten Hirsch in Schottland. Er sah darin nicht die sterbliche Hülle eines Menschen, der kaum – wie lange? – zwei oder drei Stunden zuvor noch am Leben gewesen war. Orientalischer Typ. Die glatte, unver-sehrte Haut der Hände deutete nicht auf eine praktische 455
Tätigkeit hin, insgesamt wirkte der Körper allerdings relativ fit. Sir Percival hob die Lider an. Die Augen waren so dunkelbraun, dass sie aus der Entfernung schwarz erschienen.
Gute Zähne, wenige Füllungen. Alles in allem ein junger Mann, der offenbar auf seine Gesundheit geachtet hatte.
Das war eigenartig. Ein angeborener Herzfehler vielleicht?
Dafür müssten sie seinen Brustkorb öffnen. Nutter machte das nichts aus – so etwas gehörte eben zu seinem Job, und er hatte längst gelernt, Gefühle dabei außen vor zu lassen –, aber bei einem derart jungen Körper kam es ihm wie Zeitverschwendung vor, auch wenn die Todesursache mysteri-
ös genug war, um von intellektuellem Interesse zu sein.
Möglicherweise würde dieser Fall sogar Stoff für einen Artikel in The Lancet hergeben, die Fachzeitschrift, in der er während der vergangenen 36 Jahre zahlreiche Aufsätze veröffentlicht hatte. Im Laufe der Zeit wurden durch seine Forschung an Toten hunderte, vielleicht sogar tausende Lebende gerettet – der Grund, weshalb er sich für die Pathologie
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