12 - Im Auge des Tigers
des Geschäfts zu. Als er sich den Ausdruck in Rosalies Augen vorstellte, wenn sie die Schachtel öffnete, musste er lächeln.
Dominic holte seinen Chichester-Plan der Londoner Innenstadt hervor und schlug das rote Büchlein auf, während er an bin Sali vorbeiging, ohne auch nur einen Blick in dessen Richtung zu werfen. Er musste nicht direkt hinschauen
– peripheres Sehen reichte vollkommen. Sein Blick war fest auf den Schatten geheftet. Der Bursche schien jünger zu sein als er selbst – wahrscheinlich war dies sein erster Job nach der Security-Service-Ausbildung, und aus ebendiesem Grund war er einem einfachen Ziel zugeteilt worden. Sicher war er ein wenig nervös – daher auch die geballten Fäuste und der starr auf die Zielperson gerichtete Blick. Ein Jahr zuvor in Newark war Dominic, jung und hoch motiviert, nicht viel anders gewesen. Der FBI-Agent blieb stehen, wandte sich rasch um und schätzte dabei die Entfernung zwischen Brian und bin Sah ab. Brian würde das Gleiche tun, wobei es die Aufgabe des Marine war, sein Vorgehen auf seinen Bruder abzustimmen, der die Führung übernahm. Okay. Wieder verließ sich Dominic auf peripheres Sehen – bis zum letzten Moment.
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Dann richtete er den Blick direkt auf den Schatten. Das entging dem Engländer diesmal nicht. Seine Augen ließen von bin Sali ab. Beinahe automatisch blieb er stehen und wandte sich dem amerikanischen Touristen zu, der ratlos fragte: »Entschuldigung, könnten Sie mir bitte sagen, wo…«
Um seiner Ratlosigkeit Nachdruck zu verleihen, hielt Dominic seinen Stadtplan hoch.
Brian zog den goldenen Stift aus der Jackentasche. Er drehte an der Spitze und drückte auf den Obsidianklipp, sodass die schwarze Mine der Iridiumspitze Platz machte. Dabei behielt er die Zielperson fest im Blick. Als er noch einen Meter von ihr entfernt war, machte er einen Schritt zur Seite, wie um einem nicht vorhandenen Hindernis auszuweichen, und stieß gegen bin Sali.
»Der Tower? Da lang.« Der Typ vom MB drehte sich um und zeigte Dominic die Richtung. Perfekt.
»Entschuldigung«, sagte Brian und wich einen halben Schritt nach links aus, um den Mann vorbeizulassen. Im selben Moment stach er mit dem Stift rücklings zu und traf die Zielperson mitten in die rechte Pobacke. Die hohle Nadelspitze drang drei Millimeter tief in die Haut ein. Die CO2-Ladung injizierte sieben Milligramm Succinylcholin in das Gewebe des größten Muskels von bin Salis Körper. Und Brian Caruso ging einfach weiter.
»Aha, vielen Dank.« Dominic steckte den Stadtplan wieder in die Tasche und wandte sich in die angegebene Richtung.
Als er sich ausreichend weit von dem Schatten entfernt hatte, blieb er stehen und drehte sich um – obwohl er wusste, dass man so etwas eigentlich nicht tat. Er sah, wie Brian den Stift in seine Jackentasche zurücksteckte. Dann rieb sich sein Bruder die Nase, das verabredete Zeichen für MISSION BEENDET.
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Bin Sali zuckte bei dem Stoß oder Stich – was es war, wusste er nicht – leicht zusammen, aber es war nicht der Rede wert. Mit der rechten Hand fasste er sich ans Gesäß und rieb sich die Stelle, aber der Schmerz klang sofort wieder ab. Bin Sali zuckte die Achseln und ging weiter auf das Schuhgeschäft zu – noch etwa zehn Schritte, dann bemerkte er…
… ein leichtes Zittern in seiner rechten Hand. Er blieb stehen, um sie anzusehen, und fasste sie mit der linken Hand…
… aber diese zitterte ebenfalls. Was war nur…
… seine Beine knickten ein, und er fiel senkrecht auf den Gehsteig, wobei seine Kniescheiben hart auf den Beton stie-
ßen. Das tat weh, sogar sehr. Er wollte tief Luft holen, um die Schmerzen zu unterdrücken und die Peinlichkeit des Ganzen…
… aber er atmete nicht. Das Succinylcholin hatte sich inzwischen in seinem gesamten Körper ausgebreitet und sämtliche Schnittstellen zwischen Nerven und Muskeln neutralisiert. Während auch sein Oberkörper mit dem Gesicht voran auf den Gehsteig sackte, schlossen sich die Augenlider, sodass er beim Aufschlag bereits nichts mehr sehen konnte. Er war plötzlich von völliger Schwärze umgeben – beziehungsweise von Röte, denn durch das dünne Gewebe der Augenlider drang noch langwelliges Licht. In rascher Folge ergriff erst Verwirrung, dann Panik von seinem Bewusstsein Besitz.
Was ist mit mir los?, fragte sich sein Verstand. Er konnte spüren, was passierte. Seine Stirn drückte gegen rauen Beton. Links und rechts von sich konnte er die Schritte von Menschen hören. Er
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