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12 - Im Auge des Tigers

12 - Im Auge des Tigers

Titel: 12 - Im Auge des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Clancy
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schließlich in Schwierigkeiten gebracht hatten.
    Dieser Mann hatte eine große Zahl von Anhängern und spirituellen Kindern um sich geschart, von denen der Emir lediglich der Cleverste gewesen war. Er hatte nie ein Blatt vor den Mund genommen, weshalb man ihn zur Ausbil-470

    dung nach England geschickt hatte – hauptsächlich, damit er außer Landes war. Dort, in England, hatte er sich nicht nur einige Weltgewandtheit angeeignet, sondern war auch mit etwas völlig Fremdartigem konfrontiert worden: mit Redefreiheit und dem Recht auf freie Meinungsäußerung.
    In London wird diesen Werten vor allem am Hyde Park Corner gehuldigt, in einer Tradition des Dampfablassens, die hundert Jahre zurückreicht und gewissermaßen ein Überdruckventil für die britische Bevölkerung darstellt –
    wobei der aufrührerische Geist, wenn er nicht auf Widerstand stößt, in der Regel einfach verpufft. Wäre der Emir nach Amerika gegangen, hätte er das gleiche Phänomen in Gestalt der radikalen Presse kennen gelernt. Was ihn jedoch am meisten verblüffte, war der Umstand, dass diese Menschen ihre Regierung nach Belieben kritisieren konnten. Auf jemanden, der in einer der letzten absoluten Monarchien der Welt aufgewachsen war, wirkte das in etwa so wie die Ankunft eines Raumschiffs vom Mars. In seiner Heimat gehörte selbst der Boden der Nation dem König, und das Wort des amtierenden Herrschers war Gesetz, wobei dieser lediglich an den Koran und die Shar’ia gebunden war – die islamischen Rechtstraditionen, die auf den Propheten selbst zurückreichten. Diese Gesetze waren gerecht – oder zumindest konsequent –, wenn auch äußerst streng. Das Problem war, dass es Meinungsverschiedenheiten gab über die Aus-legung des Korantextes und damit auch über die Frage, wie die Shar’ia auf die konkrete Wirklichkeit anzuwenden sei.
    Im Islam gab es keinen Papst, keine real existierende philo-sophische Hierarchie, wie andere Religionen sie verstanden
    – und somit auch keinen verbindlichen Standard für die Anwendung auf die Realität. Schiiten und Sunniten gingen sich wegen dieser Frage regelmäßig an die Gurgel, und selbst innerhalb der sunnitischen Glaubensgemeinschaft gab es Zwistigkeiten mit den fundamentalistischen Wahhabiten, der vorherrschenden Doktrin im Königreich. Für den Emir war jedoch gerade diese offenkundige Schwäche des 471

    Islam ein besonders nützlicher Zug. Man musste nur ein paar einzelne Muslime zu diesem speziellen Glaubenssystem bekehre, was erstaunlich einfach war, weil man nicht einmal lange nach den entsprechenden Leuten zu suchen brauchte. Sie gaben sich von selbst zu erkennen – quasi mit Namen und Anschrift. Die meisten von ihnen hatten ihre Ausbildung in Europa oder Amerika durchlaufen, wo sie sich als Ausländer nahezu zwangsläufig enger mit anderen gleicher Herkunft zusammenschlossen, um ihre heimatver-bundene Identität zu erhalten. Gerade ihr Außenseitertum hatte in vielen von ihnen ein revolutionäres Ethos geschürt.
    Besonders nützlich war, dass sie sich nebenbei mit der Kultur des Feindes vertraut gemacht hatten – eine wichtige Voraussetzung dafür, gezielt dessen Schwachstellen zu treffen. Die religiöse Entwicklung dieser Leute war im Grunde vorprogrammiert. Anschließend ging es nur noch darum, ihren Hass in die gewünschte Richtung zu lenken –
    sprich, ihrer jugendlichen Unzufriedenheit geeignete Sün-denböcke zu bieten – und dann zu entscheiden, wie ihre selbst geschaffenen Feinde zu beseitigen wären – entweder einer nach dem anderen oder mit einem großen Coup, was ihrem Sinn für Theatralik entgegenkam, auch wenn ihr beschränktes Verständnis der Realität mit derartigen Aktionen deutlich überfordert war.
    Und am Ende würde der Emir, wie ihn seine Anhänger inzwischen nannten, der neue Mahdi werden, der oberste Führer der weltweiten islamischen Bewegung. Die religi-onsinternen Streitigkeiten – zwischen Sunniten und Schiiten zum Beispiel – plante er durch eine umfassende Fatwa aus der Welt zu schaffen, durch einen religiösen Aufruf zur Toleranz – das fänden sogar seine Feinde vorbildhaft. Und gab es nicht auch hundert oder mehr unterschiedliche Formen des Christentums, die ihre internen Auseinanderset-zungen größtenteils beigelegt hatten? Sogar einen Aufruf zur Toleranz gegenüber den Juden konnte er sich vorbehalten, auch wenn er sich das für spätere Jahre aufsparen 472

    musste, wenn er sich sicher auf dem Thron der höchsten Macht etabliert hatte.

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