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12 - Im Auge des Tigers

12 - Im Auge des Tigers

Titel: 12 - Im Auge des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Clancy
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Wahrscheinlich würde er in einem angemessen bescheidenen Palast außerhalb von Mekka residieren. Bescheidenheit war für das Haupt einer religiö-
    sen Bewegung eine besonders nützliche Tugend, denn wie der Heide Thukydides sogar schon vor dem Propheten verkündet hatte, von allen Manifestationen der Macht sei Zurückhaltung diejenige, die den Menschen am tiefsten beeindrucke.
    Das war sein oberste Ziel, dasjenige, was er unbedingt erreichen wollte. Es würde Zeit und Geduld erfordern, und der Erfolg war keineswegs sicher. Denn leider war er von religiösen Eiferern abhängig, von denen jeder einen eigenen Verstand besaß – und damit entsprechend feste Überzeugungen. Solche Leute könnten sich durchaus auch eines Tages gegen ihn wenden und ihn durch etwas zu ersetzen versuchen, das ihren eigenen religiösen Ansichten besser entsprach. Sie glaubten vielleicht sogar tatsächlich an ihre Vorstellungen, waren also womöglich echte Eiferer, wie auch der Prophet Mohammed einer gewesen war.
    Aber Mohammed, Segen und Frieden sei mit ihm, war der ehrenhafteste aller Menschen und hatte einen guten und ehrenvollen Kampf gegen die heidnischen Götzendiener gekämpft, während sich seine, des Emirs, eigene An-strengungen hauptsächlich auf die Gemeinde der Gläubigen beschränkten. War er selbst demnach auch ein ehrenhafter Mann? Eine schwierige Frage. Aber musste der Islam nicht in die moderne Welt der Gegenwart getragen werden, anstatt im Altertum verhaftet zu bleiben? War es etwa Allahs Wunsch, dass seine Gläubigen Gefangene des siebten Jahrhunderts blieben? Gewiss nicht. Der Islam war einst das Zentrum menschlicher Gelehrsamkeit gewesen, eine Religion des Fortschritts und der Welterforschung, die unter dem großen Khan bedauerlicherweise vom rechten Weg abgekommen und dann von den Ungläubigen aus dem Westen unterdrückt worden war. Der Emir glaubte an den Koran 473

    und die Lehren der Imams, aber er verschloss nicht die Augen vor der Welt um ihn herum und den Gegebenheiten der menschlichen Existenz. All jene, die Macht besaßen, hüteten sie eifersüchtig, und mit Religion hatte das wenig zu tun, denn Macht war eine ganz besondere Droge. Und die Menschen brauchten etwas – vorzugsweise jemanden –, dem sie folgen konnten, um voranzukommen. Die Freiheit, wie sie Europäer und Amerikaner verstanden, war zu chao-tisch – auch das hatte er an der Hyde Park Corner gelernt.
    Ordnung war nötig. Und er war der Mann, der sie den Menschen geben würde.
    Uda bin Sali war also tot, dachte er und nahm einen Schluck Saft. Ein großes Unglück für Uda, aber ein geringfügiges Ärgernis für die Organisation. Die Organisation hatte Zugang, wenn schon nicht zu einem Meer aus Geld, so doch zu einer Vielzahl hinreichend großer Seen, von denen Uda einen kleinen verwaltet hatte. Ein Glas Oran-gensaft war vom Tisch gefallen, aber zum Glück hinterließ es auf dem Teppich darunter keinen Flecken. Es erforderte kein Einschreiten seinerseits, nicht einmal mittelbar.
    »Das sind traurige Neuigkeiten, Ahmed, aber für uns oh-ne nennenswerte Bedeutung. Es sind keine Maßnahmen erforderlich.«
    »Es sei, wie Sie sagen«, antwortete Ahmed Musa Mat-walli respektvoll und trennte die Verbindung. Das Mobiltelefon, das er gerade benutzt hatte, war ein Billignachbau eines Markenhandys und nur für diese einmalige Verwen-dung von einem Straßendieb gekauft worden. Ahmed warf es von der Ponte Sant’Angelo in den Tevere – den Tiber.
    Das war eine Standard-Sicherheitsmaßnahme bei Gesprä-
    chen mit dem großen Befehlshaber der Organisation, dessen Identität nur wenigen bekannt war, die ausnahmslos zu den Gläubigsten der Gläubigen gehörten. Auf der Führungs-ebene nahm man es mit der Sicherheit sehr genau. Alle, die ihr angehörten, hatten die verschiedenen Handbücher für Mitarbeiter von Nachrichtendiensten gründlich studiert.
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    Das beste hatten sie einem ehemaligen KGB-Offizier abge-kauft, der nach dem Verkauf gestorben war, denn so hatte es geschrieben gestanden. Die Regeln darin waren einfach und klar verständlich, und sie wichen kein Jota von ihnen ab. Andere waren unvorsichtig gewesen, und sie alle hatten für ihre Dummheit bezahlt. Die ehemalige UdSSR war ein verhasster Feind gewesen, aber ihre Schergen waren keine Dummköpfe. Nur Ungläubige. Amerika, der Große Satan, hatte der ganzen Welt einen Gefallen getan, diese Fehlge-burt von einer Nation zu zerschlagen. Zwar taten die Amerikaner das nur zu ihrem eigenen Vorteil, aber

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