12 - Im Auge des Tigers
Übrigen besaß er mehrere Pässe, mit denen er alle Flughäfen der Welt problemlos betreten konnte. Über die nötigen Sprachkenntnisse verfüg-te er ebenfalls – nicht umsonst hatte er in Cambridge studiert. Dafür war er seinen Eltern sehr dankbar. Außerdem dankte er dem Himmel dafür, dass seine Mutter, eine Engländerin, ihm die helle Hautfarbe und die blauen Augen vererbt hatte. Mit Ausnahme von China und Afrika ging er buchstäblich in jedem Land der Welt als Einheimischer durch. Sein leichter Cambridge-Akzent war ebenfalls nicht von Nachteil.
»Sie brauchen mir nur Ort und Zeit mitzuteilen«, erwiderte Mohammed. Er reichte seinem Gegenüber eine Visiten-karte, auf der seine E-Mail-Adresse stand. E-Mail war das nützlichste Medium für heimliche Kommunikation, das je 58
erfunden wurde. Und dank der Wunder der modernen Luftfahrt konnte man innerhalb von 48 Stunden jeden Ort der Erde erreichen.
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Kapitel 2
Einsteiger
Er betrat das Büro um Viertel vor fünf. Auf der Straße hatte er kaum Aufmerksamkeit auf sich gezogen, allenfalls den Blick der einen oder anderen allein stehenden Frau. Mit seinen einsfünfundachtzig und etwas über 80 Kilo – er trieb regelmäßig Sport –, dem schwarzen Haar und den blauen Augen war an ihm zwar kein Filmstar verloren gegangen, aber man konnte sich durchaus vorstellen, dass eine hübsche, junge Geschäftsfrau ihn nicht unbedingt von der Bett-kante geschubst hätte.
Gepflegte Kleidung, stellte Gerry Hendley fest. Blauer Anzug mit roten Nadelstreifen – anscheinend ein englisches Modell –, Weste, rot-gelb gestreifte Krawatte, hübsche goldene Krawattennadel, modisches Hemd. Ordentlicher Haarschnitt. Selbstsicherer Blick, wie ihn Leute hatten, denen es weder an Geld noch an einer guten Ausbildung mangelte und die entschlossen waren, etwas aus ihrer Jugend zu machen. Sein Auto stand auf dem Besucherparkplatz vor dem Gebäude. Ein gelber Hummer 2 SUV – ein Auto, wie es von Leuten gefahren wurde, die in Wyoming Vieh großzogen – oder in New York Kontostände. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass…
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»Nun, was führt Sie zu mir?«, fragte Gerry und bot seinem Besucher einen bequemen Sessel vor dem Mahagoni-schreibtisch an, hinter dem er selbst saß.
»Ich weiß noch nicht recht, was ich machen will – seh mich hier und da mal um, auf der Suche nach der passenden Nische.«
Hendley lächelte. »Ja, auch wenn es bei mir schon ein Weilchen her ist – ich erinnere mich noch gut, wie verwir-rend es ist, wenn man das College abgeschlossen hat. Wo waren Sie?«
»Georgetown. Familientradition.« Der Junge lächelte höflich. Das war ein Zug an ihm, der Hendley gefiel: Er versuchte nicht, mit seinem Namen und seinem familiären Hintergrund Eindruck zu schinden. Eher war ihm diese Vorstellung vielleicht etwas unbehaglich, denn offenbar wollte er aus eigener Kraft seinen Weg finden und sich selbst einen Namen machen, wie so viele junge Männer.
Wenigstens solche, die was im Kopf hatten. Eigentlich ein Jammer, dass auf dem Campus kein Platz für ihn war.
»Ihr Dad hat es mit den Jesuitenschulen.«
»Selbst Mom ist konvertiert. Sally war nicht in Benning-ton. Sie hat das Vorstudium in Fordham absolviert, oben in New York. Zum eigentlichen Medizinstudium ist sie natürlich ans Hopkins Med gegangen. Will Ärztin werden, wie Mom. Warum auch nicht, ist ein ehrbarer Beruf.«
»Im Gegensatz zu dem des Anwalts?«, fragte Gerry.
»Sie wissen ja, wie Dad darüber denkt«, versetzte der Junge mit einem Grinsen. »In welchen Fächern haben Sie eigentlich Ihren ersten Abschluss gemacht?«, fragte er Hendley, obwohl er die Antwort selbstverständlich kannte.
»Wirtschaftswissenschaften und Mathematik. Ich habe zwei Hauptfächer belegt.« Das hatte sich für das Verständnis der Kursverläufe an den Warenmärkten als ausgesprochen nützlich erwiesen. »Und wie geht es Ihrer Familie?«
»Bestens. Dad hat wieder angefangen zu schreiben – seine Memoiren. Er behauptet zwar dauernd, er sei noch nicht alt 61
genug für so was, aber er legt sich mächtig ins Zeug, damit es gut wird. Für den neuen Präsidenten hat er nicht sonderlich viel übrig.«
»Tja, Kealty ist wirklich ein Stehaufmännchen. Wenn der Bursche irgendwann einmal begraben wird, muss man wohl noch einen Laster auf seinem Grabstein parken.« Der Witz war sogar schon in der Washington Post erschienen.
»Den kenn ich schon. Dad sagt immer, ein Idiot reicht aus, um die Arbeit von zehn Genies zunichte zu
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