12 - Im Auge des Tigers
die so etwas tun, Soziopathen«, bemerkte Hendley bitter. »Das Problem war erstens, dass es viel mehr Spaß macht, über so was zu lesen, als es tatsächlich auszuführen, und zweitens, dass eine solche Aktion ohne hervorragend ausgebildetes, hochmotiviertes Personal gar nicht so einfach zu realisieren ist. Tja, das haben sie wohl auch selbst festgestellt. Als die Sache dann an die Öffentlichkeit kam, wurde die Beteiligung der Familie Kennedy irgendwie unter den Teppich gekehrt, und die CIA musste den Kopf dafür hin-halten, dass sie den Befehl des amtierenden Präsidenten –
wenn auch stümperhaft – ausgeführt hatte. Präsident Ford hat dem Ganzen dann mit seiner Executive Order ein Ende bereitet. Und so kam es dazu, dass die CIA nicht mehr vorsätzlich Menschen tötet.«
»Was ist mit John Clark?«, fragte Jack, der sich noch gut an den Blick dieses Burschen erinnerte.
»Der ist so eine Art Ausrutscher. Ja, er hat mehr als einmal Menschen getötet, aber er war immer vorsichtig genug, das nur zu tun, wenn es die Situation aus taktischen Gründen erforderte. Langley erlaubt seinen Leuten durchaus, sich bei Einsätzen selbst zu verteidigen, und Clark hatte eine Begabung dafür, Situationen herbeizuführen, in denen eine solche taktische Notwendigkeit bestand. Ich bin ihm ein paar Mal selbst begegnet. Hauptsächlich kenne ich ihn vom Hörensagen. Wie gesagt, er ist ein Einzelfall. Jetzt, nachdem er in den Ruhestand getreten ist, wird er vielleicht ein Buch schreiben. Aber selbst wenn – da wird niemals die ganze Wahrheit drinstehen. Clark hält sich an die Spielregeln, wie Ihr Dad. Manchmal beugt er die Regeln, aber gebrochen hat er sie meines Wissens noch nie – wenigstens 101
nicht im Amt«, korrigierte sich Hendley. Er und Jack Ryan sen. hatten einmal ein langes Gespräch über John Clark geführt, und sie beide kannten als einzige Menschen auf der Welt die ganze Wahrheit.
»Ich habe mal zu Dad gesagt, ich würde es mir mit Clark nicht verderben wollen.«
Hendley lächelte. »Da haben Sie durchaus Recht, aber andererseits könnten Sie John Clark das Leben Ihrer Kinder anvertrauen. Bei unserem letzten Treffen haben Sie mir eine Frage über Clark gestellt. Jetzt kann ich Ihnen eine Antwort darauf geben: Wenn er jünger wäre, würde er auch hier sitzen«, verriet Hendley viel sagend.
»Da haben Sie aber gerade was gesagt«, versetzte Jack sofort.
»Ich weiß. Können Sie damit leben?«
»Damit, Menschen zu töten?«
»So direkt habe ich das nicht gesagt, oder?«
Jack jr. stellte seine Kaffeetasse ab. »Jetzt weiß ich auch, warum Dad sagt, Sie seien clever.«
»Können Sie mit der Tatsache leben, dass Ihr Vater seinerzeit ein paar Menschen getötet hat?«
»Ich weiß davon. Es geschah am Vorabend meiner Geburt. Gehört sozusagen zur Familienlegende. Die Nachrichtenfuzzis haben während Dads Amtszeit als Präsident mächtig darauf rumgeritten. Immer wieder – als ob er ein Aussätziger wäre. Nur dass Aussatz heilbar ist.«
»Ich weiß. Im Film ist so was einfach nur cool, aber im wirklichen Leben kriegen die Leute deswegen das Gruseln.
Das Problem liegt darin, dass es im wirklichen Leben –
nicht häufig, aber eben doch manchmal – unumgänglich ist, so etwas zu tun. Das musste auch Ihr Vater feststellen…
und zwar mehr als einmal, Jack. Er hat nie gekniffen. Ich glaube, er hatte sogar Albträume deswegen, aber er tat, was er tun musste. Sonst wären Sie nicht am Leben. Und eine Menge anderer Leute auch nicht.«
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»Ich weiß von der Sache mit dem Atom-Unterseeboot.
Das ist kein großes Geheimnis, aber…«
»Mehr als nur das. Ihr Vater hat es nie drauf angelegt, aber wenn die Situation es erforderte – wie gesagt, dann erledigte er, was nötig war.«
»Ich erinnere mich noch dunkel, wie die Leute, die Mom und Dad überfallen hatten – ich meine an dem Abend, bevor ich geboren wurde –, hingerichtet wurden. Ich habe Mom mal danach gefragt. Sie ist nicht gerade eine Befür-worterin der Todesstrafe, und wohl war ihr nicht dabei, wissen Sie, aber in diesem Fall kam sie anscheinend ganz gut damit klar. Ich denke, sie hat – wie Sie das wohl nennen würden – die Logik der Situation erfasst. Und Dad - na ja, der war auch nicht dafür, aber er hat auch keine Tränen darüber vergossen.«
»Ihr Vater hat dem Kerl – ich meine, dem Anführer – eine Pistole an den Kopf gehalten, aber nicht abgedrückt. Es war nicht nötig, und darum hat er sich beherrscht. Wäre ich an seiner
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