12 - Im Auge des Tigers
ist eins der Probleme an der nachrichtendienstlichen Gemeinschaft: Sie ist verdammt noch mal zu groß geworden. Zu viele Leute – die Organisa-105
tionen treten sich ständig gegenseitig auf die Füße. Wenn Sie die hundert besten Profifußballer in einer Mannschaft versammeln, wird das Team an internen Meinungsverschiedenheiten auseinander brechen. Jeder Mensch kommt mit einem Ego auf die Welt, und das ist manchmal wie die sprichwörtliche langschwänzige Katze in einem Zimmer voller Schaukelstühle. Niemand macht viel Aufhebens darum, weil auch niemand erwartet, dass die Regierung übermäßig effizient arbeitet. Im Gegenteil – die Leute fänden es beängstigend, wenn es so wäre. Darum sind wir hier.
Kommen Sie. Jerrys Büro ist gleich hier über den Flur.«
»Charlottesville?«, fragte Dominic. »Ich dachte…«
»Seit Director Hoovers Zeiten hat das FBI dort unten ein sicheres Haus. Genau genommen gehört es nicht der Be-hörde. Dort bewahren wir die grauen Akten auf.«
»Oh.« Darüber hatte er von einem ranghohen Ausbilder an der Akademie gehört. Die grauen Akten – eine Bezeichnung, die kein Außenstehender kannte – waren angeblich Hoovers Unterlagen über Figuren auf der politischen Bühne und deren persönliche Unregelmäßigkeiten aller Art. Manche Politiker sammelten so etwas, wie andere Menschen Briefmarken oder Münzen sammelten. Es hieß, die Aufzeichnungen seien nach Hoovers Tod im Jahre 1972 vernichtet worden, aber in Wirklichkeit hatte man sie nach Charlottesville, Virginia, gebracht, in ein großes, sicheres Haus auf einem Hügel, das durch ein flaches Tal von Thomas Jeffersons Haus Monticello getrennt war und von wo aus man einen Ausblick auf die University of Virginia hatte.
Zu dem alten Plantagenhaus gehörte ein geräumiger Weinkeller, der seit mehr als fünfzig Jahren noch Kostbareres als edlen Wein beherbergte. Es handelte sich um das schwärzeste aller Geheimnisse der Behörde, das nur einer Hand voll Leuten bekannt war: den vertrauenswürdigsten langjährigen Mitarbeitern der Behörde, zu denen nicht zwangsläufig auch der amtierende FBI-Direktor gehörte. Die Akten 106
– jedenfalls die politischen – waren nie geöffnet worden.
Was hätte es auch gebracht, öffentlich zu enthüllen, dass dieser oder jener junge Senator zur Zeit der Truman-Regierung eine Vorliebe für minderjährige Mädchen gehabt hatte – der Mann war ohnehin schon längst tot, ebenso wie der Abtreibungsbefürworter. Immerhin erklärte die Furcht vor diesen Aufzeichnungen - von denen viele glaubten, dass sie noch immer fortgeführt wurden –, warum der Kongress dem FBI selten in Budgetfragen an den Karren fuhr. Ein wirklich guter Archivar, dessen Gedächtnis um das eines Computers ergänzt wurde, hätte anhand winziger Lücken in den umfangreichen Aufzeichnungen der Behörde auf die Existenz dieser Akten schließen können, doch das herauszufinden wäre eine wahrhaft herkulische Leistung gewesen. Im Übrigen hätten sich in den weißen, also den offiziellen Akten, die in einem ehemaligen Kohlebergwerk in West Virginia gehortet wurden, sehr viel pikantere Geheimnisse entdecken lassen – wenigstens aus der Sicht eines Historikers. »Wir werden Sie von Ihrem Dienst beim FBI suspendieren«, sagte Werner als Nächstes.
»Was? Warum das denn?« Diese Mitteilung schockierte Caruso derart, dass er beinahe aus dem Sessel aufsprang.
»Dominic, es gibt da eine Spezialeinheit, die Interesse an Ihnen hat. Ihr Dienstverhältnis wird dort fortgesetzt. Alles Weitere erfahren Sie von denen. Wohlgemerkt, ich sagte
›suspendieren‹, nicht etwa ›entlassen‹. Sie bekommen wie gehabt Ihr Gehalt. In den Unterlagen führt man Sie als Special Agent, in spezieller Mission in Sachen Antiterror-Ermittlung, die mir direkt untersteht. Sie werden weiterhin regelmäßig befördert und erhalten Gehaltserhöhungen.
Diese Information ist geheim, Agent Caruso«, fuhr Werner fort. »Sie dürfen mit niemand anderem als mit mir darüber sprechen. Ist das klar?«
»Ja, Sir, aber ich verstehe nicht ganz…«
»Das werden Sie noch früh genug. Sie werden weiterhin in kriminellen Machenschaften ermitteln und wahrschein-107
lich auch eingreifen. Sollte Ihre neue Tätigkeit Ihnen nicht zusagen, so können Sie mir das mitteilen, und wir werden Sie in eine neue Einsatzabteilung versetzen, wo Sie konven-tionelleren Tätigkeiten nachzugehen hätten. Aber ich wiederhole, Sie dürfen über Ihr neues Einsatzprofil mit niemand anderem als
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