12 - Tod Bei Vollmond
bisher auch getan. Doch daß du nun meinst, über dem Gesetz zu stehen, ja sogar glaubst, den erwählten Vertreter des Gesetzes angreifen zu dürfen, das ist mir noch nie vorgekommen. Ich kann nur annehmen, daß du nicht ganz bei Verstand bist – ob dauerhaft oder kurzzeitig, wird später beurteilt werden.«
Brocc trotzte ihr mit finsterem Blick. »Deine Worte sollen die Wahrheit verschleiern, Richterin. Alle Richter reden mit falscher Zunge.«
Fidelma schlug einen sarkastischen Ton an. »Ich dachte, du meinst, weil ich Nonne bin, würde ich die Wahrheit verbergen.«
»Richter! Geistliche! Schwarzer Hund, weißer Hund, beides bleiben Hunde«, hielt Brocc ihr entgegen.
Becc sah Fidelma besorgt an. »Was soll ich mit ihm machen, Cousine?«
»Mehr, als ihn bis morgen in Gewahrsam zu nehmen, wird nicht nötig sein. Dann werden wir die Vollmondmorde aufklären.«
Der Fürst der Cinél na Áeda seufzte unglücklich. Er winkte den Wachmännern zu, Brocc abzuführen. Als sich die Menge zerstreute, sagte er leise: »Das Samhain-Fest steht vor der Tür, Fidelma. Es sind nur noch ein paar Tage bis dahin. Es wäre gut, wenn wir die Lösung der Fälle davor verkünden könnten. Ich möchte nicht, daß unser Volk von Unglück heimgesucht wird.«
Fidelma ging in die Halle. Becc und Eadulf folgten ihr. Sie nahm vor dem Feuer Platz.
Becc schaute sie ängstlich an.
»Hast du dich von dem Überfall erholt?« fragte er nervös. »Bist du sicher, daß du nicht verletzt wurdest?«
Sie winkte ab.
»Ich habe schon Schlimmeres durchgestanden«, sagte sie. »Broccs Angriff war ziemlich unbeholfen. Er ist jedenfalls sehr dumm, aber seine Dummheit macht ihn gefährlich.«
»Weshalb bist du so besorgt wegen des Samhain-Festes?« fragte Eadulf.
»Das Samhain-Fest findet zu einer Zeit statt, in der sich das Jenseits mit seinen Geistern und Dämonen in dieser Welt zeigt, mein angelsächsischer Freund. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang können jene zurückkehren, die im Vorjahr gestorben sind, und Rache an jenen üben, die ihnen geschadet haben.«
»Aber das ist ein alter heidnischer Glaube«, sagte Eadulf mit seiner üblichen Geringschätzung für jene Bräuche.
»Wie dem auch sei«, griff Fidelma nun ein. »Ein Religionswechsel bedeutet nicht notwendigerweise, daß man nicht mehr an den Geschichten seiner Vorfahren hängt. Vor ungefähr fünfzig Jahren hat Papst Bonifatius in Rom angeordnet, daß das alte vorchristlich-römische Totenfest Lemuria im Mai stattfinden und als Festtag allen heiligen Märtyrern geweiht werden soll. Also hält sogar Rom an alten heidnischen Bräuchen fest.«
»Es stimmt, das Volk der Cinél na Áeda feiert weiterhin in aller Pracht das Samhain-Fest«, fügte Becc hinzu. »Alle glauben daran, daß die Geister von Beccnat, Escrach und Ballgel zurückkehren und sich an den Menschen rächen werden, bis ihnen Gerechtigkeit widerfahren ist.«
Eadulf schüttelte verwirrt den Kopf. »Wenn es solche Geister wirklich gibt, würden sie doch sicher nur den Mörder aufsuchen.«
»Die Geister glauben, daß das ganze Volk dafür verantwortlich ist, wenn der Mörder nicht gefunden und bestraft wurde. Das Volk ist wie eine Familie, und die gesamte Familie ist dafür verantwortlich, was einzelne Mitglieder von ihr tun. Ist der Mörder also nicht bis zu Samhain bestraft, werden wir alle von rachelüsternen Geistern heimgesucht werden.«
»Keine Angst, Becc.« Fidelma lächelte.
Der Fürst sah sie erwartungsvoll an.
»Wir kommen morgen mittag in dieser Halle zusammen, und ich werde die Schuldigen entlarven.«
Eadulf und Fidelma hatten sich zurückgezogen und machten sich für die Nachtruhe fertig. Eadulf war sehr schweigsam. Von Zeit zu Zeit blickte Fidelma besorgt zu ihm hinüber.
»Du scheinst mir sehr nachdenklich, Eadulf«, sagte sie schließlich. »Ist es wegen morgen?«
Er erwiderte darauf mit einem tiefen Seufzer: »Ich habe schon einer ganzen Reihe von Gerichtsverhandlungen beigewohnt, Fidelma. Mir kommen Zweifel, ob du in diesem Fall im Gerichtssaal so erfolgreich sein wirst wie in der Vergangenheit.«
»Ich fürchte, du betrachtest zu vieles als bereits erwiesen«, antwortete sie ernst. »Aber wie heißt es doch: Es ist noch nicht aller Tage Abend. Sonst interessierst du dich immer dafür, wie ich eine Beweisführung vorbereite«, fuhr sie fort, als er darauf nicht einging. »Aber heute fragst du mich nicht einmal, wer die Schuldigen sind und wie ich morgen vorgehen will. Was ist los?«
Eadulf
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