12 - Wer die Wahrheit sucht
meine - meinen körperlichen Zustand die Wahrheit sagte, würde er vorschlagen, mein Testament wieder zu ändern und ihn als Alleinerben einzusetzen. Dann hätte er sich zwar wieder mit den gesetzlichen Bestimmungen herumschlagen müssen, aber ich denke doch, das wäre ihm lieber gewesen, als mit einem einzigen Bankkonto und einem Wertpapierportefeuille dazustehen, ohne eine Möglichkeit, das eine oder andere aufzufüllen.«
»Ich verstehe«, sagte St. James. »Ich verstehe, was beabsichtigt war. Aber es ist wohl anders gekommen?«
»Ich habe es nie geschafft, ihm zu sagen, wie - wie es um mich steht. Manchmal bemerkte ich, dass er mich ansah, und dann dachte ich, er weiß es. Aber er hat nie etwas gesagt. Und ich auch nicht. Jeden Abend nahm ich mir vor, morgen, morgen spreche ich mit ihm. Aber ich habe es nie getan.«
»Und als er dann plötzlich starb -«
»Gab es große Erwartungen.«
»Und jetzt?«
»Jetzt gibt es verständliche Verärgerung.«
St. James nickte. Er blickte auf den riesigen Wandbehang, der einen entscheidenden Teil des Lebens der beiden Geschwister abbildete. Er sah, dass die Mutter, die die Koffer packte, weinte; dass die Kinder sich angstvoll aneinander klammerten. Durch ein Fenster erkannte man Nazi-Panzer, die über ein fernes Feld rollten, und einen Trupp Soldaten, der im Stechschritt durch eine schmale Straße marschierte.
»Ich nehme nicht an, dass Sie mich hergebeten haben, um sich raten lassen, was Sie tun sollen«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, das wissen Sie bereits.«
»Ich verdanke meinem Bruder alles, und ich bin ein Mensch, der seine Schulden begleicht. Sie haben Recht, ich habe Sie nicht hergebeten, damit Sie mir sagen, wie ich es jetzt, wo mein Bruder tot ist, mit meinem Testament halten soll. Nein, ganz gewiss nicht.«
»Darf ich dann fragen...? Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Bis zum heutigen Tag«, sagte sie, »war ich über den jeweiligen Inhalt der Testamente meines Bruders immer genau unterrichtet.«
»Hat er denn mehrere gemacht?«
»Er hat sein Testament häufiger geändert, als die meisten Leute das tun. Bei jeder Änderung trafen wir uns mit seinem Anwalt, und der setzte mir genau auseinander, wie das neue Testament aussehen würde. Mein Bruder war in dieser Beziehung sehr zuverlässig. Immer fuhren wir an dem Tag, an dem das Testament unterzeichnet werden sollte, zusammen zu Mr. Forrest. Wir gingen die einzelnen Klauseln durch, prüften, ob in meinem eigenen Testament irgendwelche Änderungen nötig wurden, erledigten das mit der Unterschrift und gingen hinterher zum Lunch.«
»Aber bei diesem letzten Testament war es nicht so?«
»Nein.«
»Vielleicht war Ihr Bruder noch nicht dazu gekommen«, meinte St. James. »Er hat ganz sicher nicht mit seinem Tod gerechnet.«
»Dieses letzte Testament wurde im Oktober aufgesetzt, Mr. St. James. Vor mehr als zwei Monaten. Ich war in dieser Zeit immer hier. Mein Bruder ebenso. Er muss nach St. Peter Port gefahren sein, um die Formalitäten zu erledigen und das Testament rechtsgültig zu machen. Er hat mich nicht mitgenommen. Das legt doch nahe, dass er mich ganz bewusst über seine Pläne im Unklaren gelassen hat.«
»Und was waren das für Pläne?«
»Er wollte die Vermächtnisse an Anaïs Abbott, Frank Ouseley und die Duffys streichen. Das hat er mir verheimlicht. Als mir das klar wurde, wurde mir natürlich auch klar, dass er mir vielleicht noch weit mehr verheimlicht hat.«
Jetzt, erkannte St. James, waren sie beim Kernpunkt angelangt: beim Grund ihrer Bitte um ein zweites Gespräch mit ihm.
Ruth Brouard öffnete die Metallklammern des Umschlags auf ihrem Schoß. Sie zog heraus, was er enthielt, und St. James sah sofort, dass Guy Brouards Reispass dabei war.
Ruth Brouard reichte ihm das Dokument. »Das war sein erstes Geheimnis«, sagte sie. »Sehen Sie sich den letzten Stempel an.«
St. James blätterte in dem Pass und fand schnell den relevanten Vermerk. Anders als Ruth Brouard ihm gegenüber in ihrem ersten Gespräch an diesem Tag behauptet hatte, war ihr Bruder sehr wohl in den Vereinigten Staaten gewesen. Er war im März über den Internationalen Flughafen von Los Angeles eingereist.
»Und davon hat er Ihnen nichts gesagt?«, fragte St. James.
»Nein, sonst hätte ich Ihnen doch nicht etwas anderes erzählt.« Sie reichte ihm ein Bündel Unterlagen, das, wie St. James sah, aus Kreditkartenrechnungen, Hotelrechnungen und Quittungen von Restaurants und Mietwagenfirmen bestand. Guy
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