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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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wurde, stieß er sich vom Geländer ab und kam über die Straße zu ihr.
    »Wie war's? Alles okay? Sie war schon den ganzen Tag wahnsinnig nervös.« »Es geht ihr ganz gut«, sagte Deborah. »Sie hat natürlich Angst.«
    »Ich möchte etwas tun, aber sie lässt es nicht zu. Wenn ich's versuche, fährt sie mich an. Ich will sie nicht da drinnen allein lassen, aber ich kann vorschlagen, was ich will - dass wir ein bisschen rumfahren oder spazieren gehen oder Karten spielen oder CNN schauen, um zu sehen, was zu Hause los ist -, sie flippt nur aus.«
    »Sie hat Angst. Ich glaube, sie will dich nicht merken lassen, wie groß ihre Angst ist.«
    »Aber ich bin ihr Bruder!«
    »Vielleicht ist gerade das der Grund.«
    Er ließ sich das durch den Kopf gehen, während er seinen Becher leerte und diesen dann in der Hand zusammendrückte. »Sie hat sich immer um mich gekümmert«, sagte er. »Als wir klein waren. Wenn unsere Mutter - na ja, wenn sie eben ihr Ding machte. Demos und Proteste und so. Nicht ständig, aber wenn jemand gebraucht wurde, der bereit war, sich an einen Mammutbaum ketten zu lassen oder ein Transparent durch die Gegend zu schleppen, dann war sie weg. Manchmal wochenlang. China war in der Zeit immer die Starke.«
    »Du fühlst dich in ihrer Schuld.«
    »Und wie! Ich möchte ihr helfen.«
    Deborah dachte nach, wog seinen Wunsch und die Situation, vor der sie standen, gegeneinander ab. Sie sah auf ihre Uhr. »Komm mit«, sagte sie. »Du kannst etwas tun.«

12
    Im Damenzimmer des Herrenhauses stand ein riesiges Gerät, das Ähnlichkeit mit den Webstühlen hatte, auf denen Wandteppiche gewirkt wurden. Doch an dieser Vorrichtung wurde nicht gewebt, sondern auf einer unglaublich großen Fläche mit der Nadel gearbeitet. Ruth Brouard schwieg, während St. James sich diesen überdimensionalen Stickrahmen und das auf ihm aufgespannte, kanevasartige Gewebe ansah, und dann zu einem fertigen Bild an der Wand hinaufblickte, das jenem, das er zuvor in Ruth Brouards Schlafzimmer gesehen hatte, nicht unähnlich war.
    Das gewaltige Bildwerk sollte offenbar den Fall Frankreichs im Zweiten Weltkrieg darstellen. Mit der Maginot-Linie begann die Geschichte, mit einer Frau beim Kofferpacken endete sie. Zwei Kinder - ein Junge und ein Mädchen - sahen der Frau zu. Hinter ihnen standen ein bärtiger alter Mann im Gebetsmantel mit einem aufgeschlagenen Buch in den Händen und eine weinende Frau in seinem Alter, die einen jüngeren Mann - vielleicht den erwachsenen Sohn der beiden - zu trösten schien.
    »Das ist unglaublich«, sagte St. James.
    Ruth Brouard legte einen braunen Umschlag, den sie in der Hand hielt, als sie ihm die Tür geöffnet hatte, auf einen Schreibsekretär. »Auf mich hat es eine therapeutische Wirkung«, sagte sie. »Und es ist weit weniger kostspielig als eine Psychoanalyse.«
    »Wie lange arbeiten Sie schon daran?«
    »Seit acht Jahren. Aber damals war ich nicht so flink. Ich hatte es auch nicht nötig.«
    St. James betrachtete sie. Er konnte die Krankheit in ihren allzu bemühten Bewegungen und ihrem angestrengten Gesicht erkennen. Aber er wollte sie nicht darauf ansprechen, weil sie so sehr darauf bedacht schien, den Anschein gesunder Vitalität aufrechtzuerhalten.
    »Wie viele haben Sie geplant?«, fragte er, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit richtend.
    »So viele, wie nötig sind, um die ganze Geschichte zu erzählen«, antwortete sie. »Das hier« - mit einem Nicken zur Wand - »war das Erste. Es ist ein wenig grob, aber mit stetiger Übung bin ich besser geworden.«
    »Es erzählt eine wichtige Geschichte.«
    »O ja. Ich denke schon. Was ist Ihnen passiert? Ich weiß, so etwas fragt man nicht, aber ich bin über dieses gesellschaftliche Getue hinaus. Ich hoffe, Sie nehmen die Frage nicht übel.«
    Das hätte er sehr wohl getan, hätte jemand anders sie gestellt. Aber diese Frau schien eine Fähigkeit zum Verständnis zu besitzen, das alle eitle Neugier verdrängt hatte, und sie zu einer verwandten Seele machte. Vielleicht, weil sie dem Tod geweiht war.
    »Ein Autounfall«, sagte er.
    »Wann war das?«
    »Ich war vierundzwanzig.«
    »Oh. Das tut mir Leid.«
    »Mitleid ist nicht angebracht. Wir waren beide betrunken.«
    »Sie und Ihre Freundin?«
    »Nein. Ein alter Schulfreund.«
    »Der am Steuer saß, vermute ich, und ohne eine Schramme davonkam.«
    St. James lächelte. »Sind Sie eine Hexe, Miss Brouard?«
    Sie erwiderte das Lächeln. »Ich wünschte, ich wäre eine. Ich hätte meine

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