12 - Wer die Wahrheit sucht
ein Handy, und ihm blieb nichts anderes übrig, als es aus der Hosentasche zu ziehen, aufzuklappen und sich als Betrüger zu entlarven.
»Henry Moullin«, sagte er und hörte beinahe eine Minute lang schweigend zu. Als er dann zu reden begann, bediente er sich einer völlig anderen Sprache als bisher. »Ich müsste mir das erst einmal ansehen und die Maße nehmen, Madam«, sagte er. »Solange ich keine konkreten Daten habe, kann ich Ihnen nicht sagen, wie lange so etwas dauert.« Wieder hörte er schweigend zu, zog ein schwarzes Notizbuch aus einer anderen Hosentasche und schrieb einen Termin ein, wobei er sagte: »Selbstverständlich. Freut mich, Mrs. Felix.« Er schob das Handy wieder zurück und sah Margaret an, als hätte er nie versucht, ihr vorzumachen, er wäre ein beschränkter Hinterwäldler.
»Aha!«, sagte Margaret mit grimmiger Erheiterung. »Jetzt, wo die Katze aus dem Sack ist, beantworten Sie mir vielleicht meine Frage und sagen mir, wo ich Cynthia Moulin finden kann. Ich nehme an, Sie sind ihr Vater?«
Er kannte weder Reue noch Verlegenheit. »Cyn ist nicht hier, Mrs. Brouard«, erklärte er.
»Chamberlain«, verbesserte Margaret. »Wo ist sie? Ich muss sie dringend sprechen.«
»Geht nicht«, erwiderte er. »Sie ist drüben auf Alderney. Bei ihrer Großmutter.«
»Und die Großmutter hat kein Telefon?«
»Doch, wenn's funktioniert.«
»Ich verstehe. Nun, vielleicht ist es ganz gut so, Mr. Moullin. Wir können die Sache gleich unter uns regeln, und sie braucht nichts davon zu erfahren. Dann wird sie auch nicht enttäuscht sein.«
Moullin nahm aus seiner unergründlichen Hosentasche eine Tube mit irgendeiner Salbe, von der er ein Stück in seine geöffnete Hand drückte und auf den vielen Schnittwunden verteilte, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, dass er auch reichlich Gartenerde mit in die Wunden rieb. »Am besten sagen Sie mir einfach, worum es geht«, forderte er sie mit einer männlichen Direktheit auf, die irritierend und gleichzeitig irgendwie erregend war. Margaret hatte flüchtig ein verrücktes Bild von sich und diesem Mann vor Augen - die reine Triebhaftigkeit -, wie sie es ihrer Vorstellung niemals zugetraut hätte. Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie trat automatisch einen Schritt zurück. Wie erheitert verzog er den Mund. Ein Schauder durchrann sie. Sie kam sich vor wie eine Figur in einem schlechten Liebesroman, einen Herzschlag entfernt von der Überwältigung.
Das machte sie so wütend, dass es ihr gelang, die Oberhand zurückzugewinnen. »Wie gesagt, Mr. Moullin, wir können diese Angelegenheit unter uns regeln. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie in eine langwierige gerichtliche Auseinandersetzung hineingezogen werden wollen.«
»Eine gerichtliche Auseinandersetzung? Worüber?«
»Die testamentarischen Verfügungen meines geschiedenen Mannes.«
In seinen Augen blitzte es auf. Margaret bemerkte das plötzliche Interesse und dachte an einen Vergleich: Man einigte sich auf eine geringere Summe, um nicht das ganze gute Geld den Anwälten in den Rachen zu werfen, die so einen Streit nur endlos in die Länge ziehen würden.
»Ich will ganz offen sein, Mr. Moullin«, sagte sie. »Mein geschiedener Mann hat Ihrer Tochter ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Mein Sohn - das älteste Kind meines geschiedenen Mannes und sein einziger männlicher Erbe, wie Sie vielleicht wissen - hat weit weniger bekommen. Sie werden mir zustimmen, dass das eine grobe Ungerechtigkeit ist. Ich möchte gern für einen Ausgleich sorgen, ohne dafür vor Gericht gehen zu müssen.«
Margaret hatte sich vorher keine Gedanken darüber gemacht, wie der Mann auf die Nachricht von der Erbschaft seiner Tochter reagieren würde. Es war ihr ziemlich gleichgültig gewesen. Sie hatte einzig daran gedacht, die Situation zu Adrians Gunsten zu regeln, ganz gleich, wie. Ein vernünftiger Mensch, hatte sie sich gesagt, würde auf ihre Vorschläge eingehen, wenn sie diese mit Andeutungen von einem eventuellen Rechtsstreit verband.
Henry Moullin sagte zunächst einmal gar nichts. Er wandte sich von ihr ab. Er begann, wieder zu graben, doch seine Atmung hatte sich verändert. Er atmete in heftigen Stößen und schaufelte wie gehetzt. Er sprang mit beiden Füßen auf die Schaufel und trieb sie tief in die Erde. Einmal, zweimal, dreimal. Sein brauner Nacken verfärbte sich zu einem so tiefen Rot, dass Margaret fürchtete, er bekäme auf der Stelle einen Schlaganfall. Dann sagte er: »Meine
Weitere Kostenlose Bücher