12 - Wer die Wahrheit sucht
Vermächtnisse vorgesehen gewesen, die in Guy Brouards endgültigem letzten Willen entweder ganz gestrichen waren, wie im Fall von Anaïs Abbott, Frank Ouseley, Kevin und Valerie Duffy, oder empfindlich gekürzt worden waren, wie im Fall der leiblichen Kinder Brouards. All diese Personen hatte Ruth Brouard, die von den Änderungen nichts wusste, in gutem Glauben zur Testamentsverlesung eingeladen. Wenn unter diesen ursprünglichen Erben jemand von dem früheren Testament gewusst habe, sagte St. James zu Le Gallez, habe er ein klares Motiv gehabt, Guy Brouard zu töten, um sein Erbe lieber früher als später einzustreichen.
»Fielder und Moullin kamen in dem früheren Testament nicht vor?«, erkundigte sich Le Gallez.
»Sie hat sie nicht erwähnt«, antwortete St. James. »Und da heute Nachmittag bei der Verlesung keiner von beiden anwesend war, kann man, denke ich, ruhig annehmen, dass für Miss Brouard die sie betreffenden Verfügungen überraschend waren.«
»Aber auch für die beiden?«, fragte Le Gallez. »Vielleicht hatte Brouard selbst sie eingeweiht. Dann hätten sie ebenfalls ein Motiv gehabt. Meinen Sie nicht auch?«
»Möglich ist es, ja.« Er hielt es angesichts des Alters der beiden eher für unwahrscheinlich, dass sie als Täter in Frage kamen, aber ihm war alles recht, solange es zeigte, dass Le Gallez zumindest im Moment fähig war, über die vermeintliche Schuld China Rivers hinauszudenken.
Gerade jetzt, da Le Gallez in seinen Überlegungen etwas flexibler geworden war, hätte St. James am liebsten nichts unterlassen, was ihm einen Anstoß geben konnte, sich erneut auf seine frühere engstirnige Einstellung zu besinnen, aber er wusste, dass sein Gewissen keine Ruhe geben würde, wenn er dem anderen gegenüber nicht absolut ehrlich war. »Andererseits...« Es fiel St. James ungeheuer schwer - die Loyalität zu seiner Frau schien auch Loyalität ihren Freunden gegenüber zu verlangen -, aber obwohl er ahnte, wie Le Gallez auf die neuen Informationen reagieren würde, übergab er ihm die Unterlagen, die er von Ruth Brouard bekommen hatte.
Der Chief Inspector sah zuerst Guy Brouards Pass durch, dann die Rechnungen und Quittungen. Er nahm sich einen Moment, um die Quittung vom Citrus Grille zu studieren, und klopfte mit dem Bleistift darauf, während er von seinem Brot abbiss. Nach kurzem Überlegen drehte er sich in seinem Stuhl herum und griff nach einem braunen Umschlag, dem er ein Bündel mit Maschine beschriebener Papiere entnahm. Er blätterte sie durch, bis er fand, was er offenbar gesucht hatte.
»Die Postleitzahlen«, sagte er zu St. James. »Sie fangen beide mit neun-zwei an. Neun-zwei-acht und neun-zwei-sechs.«
»Eine davon ist die von Cherokee River, vermute ich?«
»Das wussten Sie schon?«
»Ich weiß, dass er in der Gegend lebt, die Brouard besucht hat.«
»Er hat die zweite Zahl«, sagte Le Gallez. »Neun-zwei-sechs. Die andere ist von diesem Restaurant Citrus Grille. Was ergibt sich daraus für Sie?«
»Dass Guy Brouard und Cherokee River sich eine gewisse Zeit im selben Bezirk aufgehalten haben.«
»Mehr nicht?«
»Wie denn? Kalifornien ist ein großer Staat. Seine Verwaltungsbezirke sind wahrscheinlich auch groß. Ich weiß nicht, ob sich aus zwei Postleitzahlen folgern lässt, dass Brouard River schon kannte, bevor dieser mit seiner Schwester nach Guernsey kam.«
»Sie finden also nichts Verdächtiges an diesem Zusammentreffen?«
»Das täte ich vielleicht, wenn wir nicht mehr hätten als das, was im Moment vor uns liegt: den Pass, die Quittungen und Cherokee Rivers ständige Adresse. Aber River wurde von einem Anwalt, der zweifellos an einer Adresse mit einer ähnlichen Postleitzahl ansässig ist, beauftragt, Baupläne nach Guernsey zu bringen. Da ist es doch logisch, anzunehmen, dass Guy Brouard nach Kalifornien reiste, um sich mit dem Anwalt zu treffen - und dem Architekten, der wahrscheinlich eine ähnliche Postleitzahl hat -, und nicht mit Cherokee River. Ich glaube nicht, dass die beiden einander kannten, bevor River mit seiner Schwester nach Le Reposoir kam.«
»Aber Sie stimmen zu, dass wir es nicht ausschließen können?«
»Ich würde sagen, wir können gar nichts ausschließen«, entgegnete St. James.
Und das betraf auch den Ring, den er und Deborah in der Bucht gefunden hatten. Er fragte Le Gallez nach dem Ring, nach der Möglichkeit, dass er Fingerabdrücke aufwies oder wenigstens einen Teilabdruck, den die Polizei gebrauchen konnte. Der Zustand des
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