12 - Wer die Wahrheit sucht
ohne dass das geschah, hatte sie geglaubt, sie könnte für ihren Bruder da sein, der ihr Leben lang ihr Ein und Alles gewesen war. Sie war eben für andere Aufgaben nicht geschaffen, sagte sie sich. Nun gut. Sie würde für Guy leben.
Aber in ihrem Leben für Guy war sie damit konfrontiert worden, wie Guy sein Leben führte, und das war für sie schwer zu akzeptieren gewesen. Es war ihr schließlich gelungen, indem sie sich sagte, dass sein Handeln eine Reaktion auf den frühen Verlust war, den er erlitten hatte, und auf die schwere Verantwortung, die ihm infolge dieses Verlusts aufgebürdet worden war. Auch für sie hatte er Verantwortung getragen und sich nie davor gedrückt. Sie schuldete ihm viel. So hatte sie die Augen verschlossen, bis zu dem Tag, an dem es nicht mehr ging.
Sie hätte gern gewusst, warum die Menschen so unterschiedlich auf Schwierigkeiten in der Kindheit reagierten. Des einen Herausforderung war des anderen Entschuldigung, aber stets lag die Ursache für ihr Handeln in der Kindheit. Diese einfache Regel war ihr immer wieder klar geworden, wenn sie das Leben ihres Bruders betrachtet hatte: Den durch frühe Verfolgung und frühen Verlust bedingten, starken Drang, erfolgreich zu sein und den eigenen Wert zu beweisen, die unaufhörliche Jagd nach Frauen, die die Sehnsucht des kleinen Jungen nach der Mutter widerspiegelte, die misslungenen Versuche, die Vaterrolle auszufüllen, Indiz für eine Vater-Sohn-Beziehung, die abgebrochen worden war, bevor sie sich hatte entwickeln können. Sie wusste das alles und dachte darüber nach. Aber bei all ihrem Nachdenken hatte sie nie bedacht, dass diese simple Regel, die die Rolle der Kindheit im Leben eines Menschen betraf, auch bei anderen Menschen Gültigkeit hatte.
Bei ihr selbst, zum Beispiel: ein Leben in Angst. Die Leute versprachen wiederzukommen, aber sie taten es nie - das war der Hintergrund, vor dem sie ihre Rolle in dem Stück gespielt hatte, das ihr Leben wurde. Aber in einem solchen Klima der Angst konnte man nicht funktionieren, deshalb versuchte man, so zu tun, als gäbe es die Angst nicht. Von einem Mann könnte man verlassen werden, also sucht man sich einen, der einem das nicht antun kann. Ein Kind könnte größer werden, sich verändern, fortgehen, also tritt man dieser Möglichkeit auf die einfachste Art entgegen: Man bekommt keine Kinder. Die Zukunft könnte Herausforderungen mit sich bringen, die einen ins Unbekannte stoßen, also lebt man in der Vergangenheit.
Mehr noch, man macht sein Leben zu einem Tribut an die Vergangenheit, wird selbst zur Chronistin der Vergangenheit, hält sie hoch und zeichnet sie in jeder Einzelheit auf. So lebt man außerhalb der Angst, was, wie sich herausstellte, nur eine andere Art war, außerhalb des Lebens zu leben.
Aber war das so verwerflich? Ruth konnte es nicht glauben, vor allem nicht, wenn sie sich überlegte, wozu ihre Versuche, im Leben zu leben, geführt hatten.
»Ich möchte wissen, was du vorhast«, hatte Margaret am Morgen gefordert. »Adrian ist das genommen worden, was ihm von Rechts wegen zusteht - in mehr als einer Hinsicht, wie du weißt -, und ich möchte wissen, was du zu unternehmen gedenkst. Es ist mir egal, wie er es geschafft hat, was für rechtliche Tricks er angewandt hat. Darüber bin ich hinaus. Ich möchte nur wissen, wie du das in Ordnung bringen willst. Nicht ob, Ruth. Wie! Denn dir ist ja wohl klar, was passiert, wenn du nichts unternimmst.«
»Guy wollte -«
»Es ist mir, verdammt noch mal, egal, was Guy deiner Meinung nach wollte! Ich weiß, was er wollte: das, was er immer wollte.« Margaret trat kämpferisch auf Ruth zu, die an ihrem Toilettentisch saß und versuchte, ihrem Gesicht etwas Farbe zu gehen. »Sie hätte seine Tochter sein können, Ruth. Sie war jünger als seine eigenen Töchter, Herrgott noch mal. Sie hätte für ihn unter allen Umständen unantastbar sein müssen. Das war sein letztes Meisterstück! Und du weißt davon, richtig?«
Ruths Hand zitterte so heftig, dass sie ihren Lippenstift nicht aufdrehen konnte. Margaret sah es und stürzte sich darauf. Sie interpretierte es als die Antwort, die Ruth nicht aussprechen wollte.
»Mein Gott, du hast es tatsächlich gewusst.« Margarets Stimme war rau. »Du wusstest, dass er es darauf anlegte, sie zu verführen, und hast nichts getan, um es zu verhindern. Für dich - das war ja immer so - konnte Guy nichts Böses tun, ganz gleich, wer leiden musste.«
Ruth, ich will es. Sie will es auch.
»Was
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