12 - Wer die Wahrheit sucht
der Arzt. »Aber es kommt eine Zeit, wo ein stärkeres opiumhaltiges Analgetikum erforderlich wird. Ich denke, Sie wissen, dass wir diesen Punkt erreicht haben, Ruth. Hydromorphin reicht jetzt nicht mehr aus. Wir können die Dosis nicht erhöhen. Wir müssen umstellen.«
»Gibt es keine andere Möglichkeit?« Ruth wusste, wie schwach ihre Stimme war, und was das über ihren Zustand verriet. Sie hätte fähig sein müssen, sich vor dem Feuer zu verstecken, und wenn sie das schon nicht schaffte, hätte sie fähig sein müssen, das Feuer vor der Welt zu verstecken. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Es wäre nicht so schlimm, wenn es ein pochender Schmerz wäre. Dann gäbe es dazwischen Pausen. Ich hätte die Erinnerung daran, wie es war - in diesen kurzen Pausen... wie es früher einmal war.« »Dann noch einmal eine Runde Chemo.«
Ruth blieb fest. »Nein. Auf keinen Fall.«
»Dann müssen wir zu Morphin übergehen. Das ist die einzige Möglichkeit.« Er beobachtete sie von jenseits seines Schreibtischs, und der Schleier in seinen Augen, der ihn vor ihr geschützt hatte, schien sich einen Moment zu heben. Der Mann erschien wie nackt vor ihr, ein Geschöpf, das die Schmerzen allzu vieler anderer Geschöpfe fühlte.
»Wovor haben Sie Angst?« Seine Stimme war voll Güte. »Vor der Chemo selbst? Vor ihren Nebenwirkungen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Vor dem Morphin? Ist es die Vorstellung der Sucht? Fixer, Opiumhöhlen, Drogensüchtige, die in Hintergassen vor sich hindämmern?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Dann die Tatsache, dass das Morphin eingesetzt wird, wenn es dem Ende zugeht?«
»Nein, nein. Ich weiß, dass ich sterbe. Davor habe ich keine Angst.« Nach so langer Zeit maman und papa wiederzusehen, Guy wiederzusehen und sagen zu können, es tut mir so Leid... Was, dachte Ruth, gibt es da zu fürchten? Aber sie wollte die Kontrolle behalten, und sie wusste, wie Morphin wirkte: dass es einem am Ende genau das raubte, um dessen Erhaltung man kämpfte, um es mit einem Seufzen selbst freisetzen zu können.
»Aber es ist nicht nötig, so qualvoll zu sterben, Ruth. Das Morphin -«
»Ich möchte wissen, dass ich sterbe, wenn ich sterbe«, sagte Ruth. »Ich möchte keine atmende Leiche sein.«
»Ach so.« Der Arzt legte die Hände auf den Schreibtisch und faltete sie ordentlich, so dass sein Siegelring das Licht reflektierte. »Sie haben ein Bild davon. Die Patientin im Koma, und die Familie um ihr Bett versammelt. Sie liegt reglos da, nicht einmal bei Bewusstsein, unfähig, sich mitzuteilen, ganz gleich, was in ihrem Geist vorgeht.«
Ruth spürte den Druck der Tränen, aber sie gab ihm nicht nach. Aus Angst, sie könnte es doch tun, nickte sie nur.
»Das ist ein Bild von vor langer Zeit«, sagte der Arzt. »Natürlich können wir es auch heute herstellen, wenn das der Wunsch des Patienten ist: ein sorgfältig herbeigeführtes Hinübergleiten in ein Koma, an dessen Ende der Tod wartet. Wir können aber die Dosis auch so einstellen, dass der Schmerz gelindert wird und der Patient völlig wach bleibt.«
»Aber wenn der Schmerz zu stark wird, muss die Dosis ihm angepasst werden. Und ich weiß, wie Morphin wirkt. Sie können nicht sagen, dass es nicht schwach und müde macht.«
»Wenn Sie Probleme damit haben, wenn es Sie zu schläfrig macht, geben wir zum Ausgleich etwas anderes dazu, etwas Anregendes.«
»Noch mehr Tabletten.« Die Bitterkeit, die Ruth in ihrer Stimme hörte, stand in direktem Verhältnis zu ihrem Schmerz.
»Was haben wir für eine Alternative, Ruth? Neben dem, was Sie bereits bekommen?«
Das war die Frage, und es gab keine Antwort darauf, die sie leicht akzeptieren konnte. Da war der Tod von eigener Hand; die freudige Hinnahme der Qualen nach Art einer christlichen Märtyrerin, oder die Droge. Sie würde sich entscheiden müssen.
Sie dachte bei einer Tasse Kaffee darüber nach, die sie im Admiral de Saumarez Inn trank, gleich um die Ecke von der Berthelot Street. Im Kamin brannte ein Feuer, und in seiner Nähe fand Ruth einen kleinen Tisch, der frei war. Sie setzte sich vorsichtig und bestellte Kaffee, trank ihn langsam, den bitteren Geschmack auskostend, während sie zusah, wie die Flammen gierig über die Holzscheite herfielen.
Sie müsste, dachte sie müde, heute nicht in der Situation sein, in der sie sich befand. Als junges Mädchen hatte sie geglaubt, sie würde eines Tages heiraten und Familie haben wie andere Frauen. Doch als sie dreißig und dann vierzig geworden war,
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