12 - Wer die Wahrheit sucht
sollte. Als er die Rolle das erste Mal ausgebreitet hatte, hatte er sofort gesehen, dass es keine Schatzgräberkarte war, wie er sie erwartet hatte, aber ihm war auch klar gewesen, dass es dennoch eine Karte war, wenn auch anderer Art. Etwas anderes hätte Mr. Guy ihm nicht dorthin gelegt. Während er seinen Fund betrachtete, erinnerte er sich, dass Mr. Guy häufig in Rätseln gesprochen hatte: eine Ente, zum Beispiel, die von der übrigen Schar ausgeschlossen wurde, stand für Paul und seine Schulkameraden; ein Auto, das Wolken giftiger schwarzer Abgase in die Luft blies, stand für einen menschlichen Körper, der durch ungesundes Essen, Zigaretten und mangelnde Bewegung rettungslos verseucht war. Das war Mr. Guys Art, weil er niemandem predigen wollte. Paul hatte jedoch nicht vorausgesehen, dass Mr. Guys Art des hilfreichen Gesprächs sich auch auf Botschaften nach seinem Tod erstrecken könnte.
Die Frau hielt einen Gänsekiel. Es war doch ein Gänsekiel? Und sie hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß. Hinter ihr erhob sich ein großes und mächtiges Bauwerk, zu dessen Füßen Arbeiter zu erkennen waren, die an ihm bauten. Paul fand, es sähe wie eine Kathedrale aus. Und die Frau sah aus... Er konnte es nicht sagen. Niedergeschlagen, vielleicht. Unendlich traurig. Sie schrieb in das Buch, als zeichnete sie etwas auf... Aber was? Ihre Gedanken? Über die Arbeit, die hinter ihr getan wurde? Was wurde denn da getan? Ein Gebäude wurde errichtet. Eine Frau mit einem Buch und einem Federkiel und ein Gebäude, das gerade im Bau war, und das alles eine letzte Botschaft für Paul von Mr. Guy.
Du weißt viele Dinge, von denen du glaubst, sie nicht zu wissen, mein Sohn. Du kannst alles, was du willst.
Aber das hier? Was sollte er damit anfangen? Die einzigen Gebäude, die Paul im Zusammenhang mit Mr. Guy einfielen, waren seine Hotels, sein Haus in Le Reposoir und das Museum, das er und Mr. Ouseley geplant hatten. Die einzigen Frauen in Mr. Guys Leben, von denen Paul wusste, waren Anaïs Abbott und Mr. Guys Schwester. Es schien unwahrscheinlich, dass die Botschaft, die Mr. Guy ihm übermitteln wollte, mit Anaïs Abbott zu tun hatte. Und noch unwahrscheinlicher, dass Mr. Guy ihm eine geheime Botschaft über eines seiner Hotels oder sein Haus hatte hinterlassen wollen. Blieben Mr. Guys Schwester und Mr. Ouseleys Museum als Kern der Botschaft. Ja, das musste es sein.
Vielleicht bedeutete das Buch auf dem Schoß der Frau, dass sie über den Bau des Museums Buch führte. Und dass Mr. Guy gerade ihm diese Botschaft hinterlassen hatte - wo er sie doch jedem anderen hätte zukommen lassen können -, hieß, dass sie Mr. Guys Anweisungen für die Zukunft enthielt. Seine Erbschaft von Mr. Guy passte mit der Botschaft zusammen: Ruth Brouard würde das Projekt weiterführen, aber den Bau bezahlen würde Pauls Geld.
So musste es sein. Paul wusste es. Aber vor allem fühlte er es. Und Mr. Guy hatte mit ihm oft über Gefühle gesprochen.
Vertrau auf das Innere, mein Junge, dort liegt die Wahrheit.
Mit freudiger Erschütterung erkannte er, dass das Innere mehr einschloss als das Innere des Herzens und der Seele. Es bezog sich auch auf das Innere des Dolmen. Er sollte dem vertrauen, was er in der dunklen Steinkammer gefunden hatte. Und das würde er tun.
Er drückte Taboo an sich, und ihm war, als fielen Bleigewichte von seinen Schultern. Er war in der Finsternis herumgeirrt, seit er von Mr. Guys Tod erfahren hatte. Jetzt sah er ein Licht. Aber eigentlich war es mehr als das. Viel mehr. Jetzt hatte er eine Orientierung.
Ruth brauchte das Urteil ihres Onkologen gar nicht zu hören. Sie konnte es an seinem Gesicht ablesen. Am meisten verriet die Stirn, die noch stärker gerunzelt war als sonst. Daran merkte sie, dass er gegen Gefühle kämpfte, die mit einem bevorstehenden Scheitern einhergingen. Sie fragte sich, wie es war, sein Lebenswerk in einer Arbeit zu sehen, die einen zwang, das Sterben unzähliger Patienten mit anzusehen. Denn eigentlich war es doch die Bestimmung der Ärzte, zu heilen und den Sieg im Kampf gegen Krankheit, Unfall und Siechtum zu feiern. Krebsärzte aber zogen mit Waffen in den Krieg, die häufig nicht ausreichten gegen einen Feind, der keine Beschränkung und keine Regeln kannte. Der Krebs, dachte Ruth, war wie ein Terrorist. Keine Warnzeichen, nur Verwüstung. Das Wort allein reichte, um zu vernichten.
»Wir sind mit dem, was wir bisher eingesetzt haben, so weit gegangen, wie es möglich war«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher