12 - Wer die Wahrheit sucht
der Mittel zurückzulassen. Nehmen Sie von jedem eine Probe, und lassen Sie den Rest hier, schlug sie vor. Das werden Sie Miss Brouard zuliebe doch wohl tun können. Sie muss sonst leiden.
Der Constable war einverstanden, wenn auch widerstrebend. Als Valerie an ihre Arbeit in der Küche zurückkehrte, spürte sie seinen bohrenden Blick im Nacken und wusste, dass sie sich verdächtig gemacht hatte. Aus diesem Grund hatte sie nicht im Herrenhaus telefonieren wollen, sondern war dazu nach Hause gegangen. Aber sie telefonierte nicht von der Küche aus, wo sie nicht sehen konnte, was auf dem Gelände vorging, sondern ging nach oben ins Schlafzimmer. Sie setzte sich auf Kevins Seite des Betts, näher beim Fenster, und so konnte sie, während sie beobachtete, wie die Polizisten sich draußen im Park verteilten, Kevins Geruch atmen, der einem auf dem Stuhl liegenden Arbeitshemd entströmte.
Geh ran, dachte sie. Geh ran, geh ran. Es klingelte und klingelte.
Sie wandte sich vom Fenster ab. Über das Telefon gekrümmt, konzentrierte sie sich darauf, ihre ganze Willenskraft durch die Leitung zu senden. Wenn sie es lange genug klingeln ließ, würde das lästige Geräusch allein eine Reaktion herausfordern.
Kevin würde das nicht gefallen. Er würde sagen: »Warum tust du das, Val?« Und sie würde ihm keine ehrliche und direkte Antwort geben können, weil für Ehrlichkeit und Direktheit allzu lange zu viel auf dem Spiel gestanden hatte.
Geh ran, geh ran, geh endlich ran, dachte sie.
Er war sehr früh gefahren. Das Wetter werde jeden Tag ungemütlicher, hatte er gesagt, und er müsse nach den vorderen Fenstern in Mary Beth' Haus sehen, sie seien undicht. Die Fensterfront sei genau auf der Wetterseite, und sie würde Riesenprobleme bekommen, wenn es erst mal richtig zu regnen anfing. Durch die unteren Fenster sei das Wohnzimmer betroffen, das Wasser würde den Teppich ruinieren, die Wände würden zu schimmeln anfangen, und Val wisse doch, dass Mary Beth' beide Töchter gegen Feuchtigkeit allergisch wären. Die oberen Fenster gehörten - noch schlimmer - zu den beiden Mädchenzimmern. Er konnte doch nicht zulassen, dass seine Nichten in Zimmern schliefen, in die es hineinregnete! Als Schwager und Onkel trage er eine gewisse Verantwortung, und die wolle er nicht vernachlässigen.
Damit war er losgefahren, um die Fenster im Haus seiner Schwägerin zu richten. Der armen, hilflosen Mary Beth Duffy, dachte Valerie, die viel zu früh Witwe geworden war, weil ihr Ehemann in Kuwait auf dem Weg vom Taxi zum Hotel infolge eines Herzfehlers tot umgefallen war. In weniger als einer Minute war für Corey alles vorbei gewesen. Kev hatte den gleichen Herzfehler wie sein Bruder, aber das hatte niemand gewusst bis zu dem Moment, als Corey in dieser gnadenlosen Sonne, in dieser Hitze Kuwaits, auf der Straße gestorben war. So kam es, dass Kevin sein Leben Coreys Tod verdankte. Ein angeborener Herzfehler bei einem Zwilling legte nahe, dass der andere Zwilling mit dem gleichen Defekt geschlagen war. Kevin trug jetzt ein Wunderding in seinem Herzen, das auch Corey das Leben gerettet hätte, wäre je ein Mensch auf den Gedanken gekommen, mit seinem Herzen könnte etwas nicht stimmen.
Valerie wusste, dass ihr Mann sich wegen dieser Geschichte der Frau und den Kindern seines Bruders gegenüber doppelt verantwortlich fühlte. Aber während sie sich vor Augen zu halten suchte, dass er nur einem Gefühl der Verpflichtung folgte, das sich ohne Coreys Tod nie gerührt hätte, sah sie doch immer wieder auf die Uhr auf dem Nachttisch und fragte sich, wie lange man dazu brauchen konnte, vier oder fünf Fenster abzudichten.
Die Mädchen - Kevs Nichten - waren in der Schule und Mary Beth würde dankbar sein. Ihre Dankbarkeit und ihr Schmerz konnten zusammen eine berauschende Mischung ergeben.
Mach mich vergessen, Kev. Hilf mir vergessen.
Das Telefon klingelte und klingelte. Valerie lauschte mit gesenktem Kopf und drückte die Finger auf die Augen.
Sie wusste sehr gut, wie Verführung geschah. Sie hatte sie mit eigenen Augen geschehen sehen. Aus verstohlenem Blickwechsel und wissendem Lächeln entspann sich zwischen Mann und Frau eine uralte Geschichte. Sie gewann Kontur durch die Momente scheinbar zufälliger Berührung, für die es eine einfache Erklärung gab: Finger stoßen aneinander, wenn ein Teller weitergegeben wird; die Hand auf dem Arm verleiht einer erheiternden Bemerkung Nachdruck. Bald folgten die erhitzten Wangen, Vorboten des verlangenden
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