12 - Wer die Wahrheit sucht
musst du was tun.«
»Oh.« Valerie sah zum Telefon auf dem Nachttisch, um nicht ihren Mann ansehen zu müssen. »Ja. Ja. Ich wollte - aber ich habe niemanden erreicht.« Sie lächelte hastig. »Was ist nur los mit der Welt? Nicht mal der Arzt geht ans Telefon.« Wie abschließend schlug sie mit beiden Händen auf ihre Oberschenkel und stand vom Bett auf. »Ich nehme jetzt mal die Tabletten. Wenn die Schmerzen Einbildung sind, wie der Arzt meint, können die Tabletten meinen Körper vielleicht betrügen.«
So gewann sie Zeit, sich zu sammeln. Sie holte die Tabletten aus dem Bad und nahm sie mit in die Küche hinunter, um sie mit Orangensaft zu schlucken. Sie trank immer Orangensaft, wenn sie etwas einnehmen musste. Daran war nichts, was Kevin hätte auffallen können.
Als er die Treppe herunter in die Küche kam, war sie bereit. »Und - alles in Ordnung bei Mary Beth?«, erkundigte sie sich lebhaft. »Hast du die Fenster gerichtet?«
»Ihr graut vor Weihnachten. Das erste Weihnachten ohne Corey.«
»Ja, das ist hart. Er wird ihr noch lange, lange fehlen. So wie du mir fehlen würdest, Kev.« Valerie holte ein frisches Spültuch aus der Wäscheschublade und begann, die Arbeitsplatten abzuwischen. Sie hatten es zwar nicht nötig, aber sie wollte sich mit irgendetwas beschäftigen, um zu verhindern, dass die Wahrheit aus ihr heraussprudelte. Wenn sie beschäftigt war, konnte sie sicher sein, dass ihre Stimme, ihr Körper und ihr Mienenspiel sie nicht verrieten, und das wollte sie: Die beruhigende Gewissheit, dass sie ihre Gefühle unter Verschluss hatte. »Es ist für sie sicher auch traurig, dich zu sehen. Sie sieht dich an und sieht Corey.«
Kevin antwortete nicht, und sie musste ihn anblicken. Er sagte: »Sie sorgt sich um die Mädchen. Sie wünschen sich vom Weihnachtsmann, dass er ihren Vater zurückbringt. Mary Beth hat Angst davor, was passiert, wenn der Wunsch nicht in Erfüllung geht.«
Valerie putzte eine Stelle auf der Arbeitsplatte, wo ein zu heißer Topf einen schwarzen Fleck eingebrannt hatte. Aber Putzen würde nichts besser machen. Der Schaden war schon zu alt, er hätte gleich behoben werden müssen.
Wieder sagte Kevin: »Was tut die Polizei hier, Val?«
»Sie suchen was.«
»Was denn?«
»Das sagen sie nicht.«
»Geht es um..?«
»Ja. Was sonst. Sie haben Ruths Tabletten beschlagnahmt.«
»Sie glauben doch nicht, dass Ruth -« »Nein. Ich weiß nicht. Das kann ich mir nicht vorstellen.« Valerie hörte auf zu putzen und faltete das Spültuch zusammen. Der Fleck war immer noch da, unverändert.
»Ist doch eigentlich gar nicht deine Zeit, zu Hause zu sein«, bemerkte Kevin. »Hast du nicht im großen Haus zu tun? Musst du nicht kochen?«
»Ich musste schauen, dass ich der Gesellschaft da draußen aus dem Weg gehe«, sagte sie mit Blick auf die Polizei.
»Haben sie das von dir verlangt.«
»Nein, ich hatte aber den Eindruck.«
»Wenn sie draußen fertig sind, suchen sie hier.« Er blickte zum Fenster hinaus, als könnte er von der Küche aus das Herrenhaus sehen, was nicht der Fall war. »Würde mich interessieren, was sie suchen.«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie wieder und schluckte.
Vor dem Haus begann ein Hund zu bellen. Aus dem Bellen wurde Jaulen. Jemand schimpfte laut. Valerie und ihr Mann gingen ins Wohnzimmer, wo man durch die Fenster auf den Rasen hinaussehen konnte und die Auffahrt überblickte, die sich um die Bronzeskulptur mit den Schwimmern und Delphinen zog. Dort hatten Paul Fielder und Taboo einen Zusammenstoß mit der Polizei in Gestalt eines einsamen Constables, der an einen Baum gedrückt dastand, während der Hund ihm an die Hosenbeine wollte. Paul ließ sein Fahrrad fallen und zog den Hund weg.
»Da kümmere ich mich mal lieber darum«, sagte Valerie. »Nicht dass Paul noch Ärger kriegt.«
Sie nahm ihren Mantel, den sie beim Hereinkommen über eine Stuhllehne geworfen hatte, und lief zur Tür.
Kevin sprach erst, als ihre Hand schon auf dem Türknauf lag. Er sagte nur ihren Namen.
Sie schaute sich nach ihm um, sah das von Wind und Sonne gegerbte Gesicht, die schwieligen Hände, den unergründlichen Blick. Sie hörte die Frage, aber sie brachte es nicht über sich, ihm zu antworten.
»Möchtest du mir etwas sagen?«, fragte er.
Sie lächelte heiter und schüttelte den Kopf.
Deborah saß unter dem silbergrauen Himmel nicht weit von der mächtigen Skulptur Victor Hugos entfernt, dessen Umhang und Schal aus dunklem Granit sich auf ewig in dem Wind
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