12 - Wer die Wahrheit sucht
nicht.
»Aber Sie müssen etwas tun«, sagte Guy. »Sie können es nicht unter den Tisch fallen lassen. Lieber Gott, Frank! Sie haben doch nicht vor, das einfach durchgehen zu lassen?«
Das war zum Leitmotiv ihrer Tage geworden. Haben Sie schon etwas unternommen, Frank? Haben Sie ihn darauf angesprochen?
Frank hatte geglaubt, jetzt würde er es nicht mehr tun müssen; jetzt, wo Guy tot und begraben war und er der Einzige, der es wusste. Er hatte geglaubt, er würde es nun niemals tun müssen. Aber der vergangene Tag hatte ihn eines Besseren belehrt.
Wer die Vergangenheit vergisst, wiederholt sie.
Er stand auf, schob die anderen Unterlagen wieder in den Umschlag und legte den Umschlag in den Hefter zurück. Er stieß die Schublade des Aktenschranks zu und machte das Licht aus. Dann schloss er die Haustür hinter sich ab.
Sein Vater saß in seinem Sessel und schlief, als er zurückkam. Im Fernsehen lief ein amerikanischer Krimi. Zwei Polizisten mit den Buchstaben NYPD auf den Rücken ihrer Windjacken lauerten mit gezückten Pistolen zum Angriff bereit vor einer geschlossenen Tür. Zu einer anderen Zeit hätte Frank seinen Vater geweckt und nach oben gebracht. Aber jetzt ging er an ihm vorüber und stieg die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Er wollte allein sein.
Auf seiner Kommode standen zwei gerahmte Fotografien. Die eine zeigte seine Eltern am Tag ihrer Hochzeit nach dem Krieg. Auf der anderen waren er und sein Vater zu sehen. Stolz standen sie am Fuß des deutschen Beobachtungsturms unweit dem Ende der Rue de la Prevote. Frank konnte sich nicht mehr erinnern, wer die Aufnahme gemacht hatte, aber den Tag selbst hatte er noch genau im Gedächtnis. Es hatte in Strömen geregnet, trotzdem waren sie den Klippenweg entlangmarschiert, und als sie ihr Ziel erreichten, war die Sonne hervorgebrochen. Gottes Wohlgefallen an ihrer kleinen Wallfahrt, hatte Graham gesagt.
Frank lehnte die Liste aus dem Aktenschrank an das zweite Foto. Er trat einige Schritte zurück wie ein Priester, der den Altar nicht aus den Augen lassen will, tastete hinter sich, und als er das Fußende seines Betts spürte, ließ er sich darauf nieder. Er hielt den Blick auf das nichts sagend aussehende, kleine Schriftstück gerichtet und versuchte, die fordernde Stimme zu ignorieren.
Sie können das nicht unter den Tisch fallen lassen.
Er wusste, dass er das nicht konnte. Denn: Das ist doch der Sinn der Sache.
Frank war zwar kein welterfahrener Mann, aber er war auch nicht dumm. Er wusste, dass der menschliche Geist ein seltsames Gespinst ist, das wie ein Zerrspiegel wirken kann, wenn ihm Dinge zugemutet werden, die zu erinnern zu schmerzlich sind. Der Geist kann verleugnen, umgestalten oder vergessen. Er kann, wenn nötig, eine Parallelwelt erschaffen. Er kann für jede Situation, die ihm unerträglich ist, eine gesonderte Wirklichkeit erdenken. Er log nicht, wenn er das tat, das wusste Frank. Er bediente sich nur einer Strategie, um mit der jeweiligen Situation umgehen zu können.
Schlimm wurde es, wenn die Strategie die Wahrheit auslöschte, anstatt nur vorübergehend vor ihr zu schützen. Wenn das geschah, entstand Ausweglosigkeit. Verwirrung fasste Fuß. Chaos folgte.
Frank wusste, dass sie am Rand des Chaos standen. Es war Zeit, zu handeln, aber er fühlte sich wie gelähmt. Er hatte sein Leben für den Dienst an einer Chimäre geopfert, und obwohl er das seit zwei Monaten wusste, taumelte er immer noch unter der Gewalt des Schlags.
Die Enthüllung der Wahrheit würde mehr als ein halbes Jahrhundert der Verehrung, der Bewunderung und des Glaubens sinnlos machen. Sie würde ein Menschenleben in öffentlicher Schande enden lassen.
Frank wusste, dass er es verhindern konnte. Es stand ja nur ein kleines Stück Papier zwischen der Einbildung eines alten Mannes und der Wahrheit.
In der Fort Road öffnete eine attraktive, unverkennbar hochschwangere Frau St. James die Tür zum Haus der Familie Debiere. Sie stellte sich als Caroline, Ehefrau des Architekten, vor. Ihr Mann Bertrand sei mit den Kindern hinten im Garten. Er habe sie ihr ein paar Stunden abgenommen, damit sie eine Weile ungestört schreiben könne. In dieser Hinsicht sei er wunderbar, überhaupt ein vorbildlicher Ehemann. Sie wisse gar nicht, womit sie das Glück verdient habe, ihn zum Mann zu bekommen.
Caroline Debieres Blick fiel auf die Rolle großformatiger Papiere, die St. James unter dem Arm trug. Ob es etwas Geschäftliches sei?, erkundigte sie sich, und ihr Ton verriet
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